Literatur Bücher von jungen Autorinnen und Autoren aus Bayern
Sie schreiben kraftvoll, klug und am Puls der Zeit. Die jungen Stimmen der Literatur überraschen mit schonungslosen Einblicken und außergewöhnlichen Perspektiven. Sie erzählen von Sehnsucht und Identität, von der Welt um sie herum und dem Ringen mit sich selbst. Buchexpertin Sabine Abel stellt Ihnen vier ausgewählte Romane vor, die berühren und herausfordern – immer auf der Suche nach dem, was das Leben ausmacht.

Lion Christ: Sauhund
1983. Flori lebt auf dem Land und fühlt sich fehl am Platz. Er ist anders als die anderen und kreuzunglücklich darüber. Auf der Suche nach sich selbst zieht es ihn nach München, wo er ins pralle Leben der schillernden Schwulenszene eintaucht. Wilde Partys und Begegnungen mit berühmten Stars wie Freddy Mercury bestimmen seinen Alltag. Für den unverbesserlichen Glückssucher ist jeder eigene Schritt eine kleine Befreiung. Doch das vermeintliche Lotterleben hat seinen Preis: Flori scheitert in seiner Ausbildungsstelle, bricht mit seiner besten Freundin und verliert den Kontakt zu seinen Eltern.
Sabine Abel: "Die Geschichte spielt in der Anfangszeit von AIDS - als das unbekannte Virus über die Homosexuellen hereinbrach und Sex lebensgefährlich machte. Hauptfigur Flori irrlichtert durchs Leben und stolpert von einer absurden Situation in die nächste. Beim Lesen wollte ich ihn immer wieder schütteln und ihm zurufen: ‚Reiß dich zusammen!'. Es ist die ungeschönte Darstellung eines Getriebenen, der die Herausforderungen des Andersseins meistern muss. Besonders gut gefallen hat mir der atmosphärische Schreibstil, der die Leser mitten in die 1980er Jahre katapultiert - so intensiv, als wäre Lion Christ selbst dabei gewesen. Mit einem Augenzwinkern habe ich beim Lesen die damalige mit der heutigen Zeit verglichen. Heterosexuellen Lesern bietet das Buch eine spannende Perspektive auf eine fremde Welt, verbunden mit einem aktuellen Bezug zu Themen wie Akzeptanz und Authentizität. Dabei hat die Geschichte immer auch eine humorvolle Seite und packt den Leser mit einem eigenwilligen Mix aus Ernsthaftigkeit und leichtem Witz. Berührend und außergewöhnlich."
Lion Christ
Der Autor hält sich mit persönlichen Informationen bedeckt, bekannt ist nur, dass er Ende der 1990er Jahre in Bad Tölz geboren wurde und dieses Buch sein Debütroman ist.
Slata Roschal: Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten
Eine Frau hat auf den ersten Blick alles, was nach gängigen Kategorien eine geglückte Biografie ausmacht: einen liebevollen Mann, zwei Kinder und eine solide Existenz. Doch sie sitzt in einem Hotelzimmer und fühlt sich unzufrieden. Ihr Umfeld gibt ihr zu verstehen, dass es keinen Grund dafür gibt, doch sie kann die innere Zerrissenheit nicht abschütteln und denkt darüber nach, ihr gesamtes Leben hinter sich zu lassen. Dann nimmt sie einen Übersetzungsauftrag an, der alles verändert. Historische Briefe von deutschen Auswanderern zerschmettern ihr Hotel-Vakuum, und im Austausch mit fremden Toten und unerwarteten Biografien stellt sich die Frage nach einem guten Leben überraschend anders.
Sabine Abel: "Der Roman wird aus der Ich-Perspektive der Protagonistin erzählt, die sich in einer Lebenskrise befindet. Damit trifft er einen Nerv, der vielen Eltern vertraut ist: der Spagat zwischen Karrierewunsch und dem Bedürfnis, für die Familie da zu sein. Was sofort auffällt, ist der besondere Schreibstil: kurze, knappe Sätze ziehen den Leser regelrecht in einen Sog. Das Buch lässt die Leser tief in die Gedankenwelt der Protagonistin eintauchen und regt zum Nachdenken an - auch über das eigene Leben. Immer wieder gibt es Momente, die ein Schmunzeln hervorrufen, weil sie so authentisch und lebensnah sind. Genau diese geschickte Mischung aus Tiefe und Witz macht den Roman zu einem echten Erlebnis."
Slata Roschal
Die Autorin kam Ende der 1990er Jahre mit ihren Eltern von Russland nach Deutschland und wuchs zweisprachig auf. Heute lebt und arbeitet sie in München, wo sie auch promoviert hat. Bereits mit 25 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Erzählband und gilt seither sie als eine der spannendsten jungen Autorinnen der deutschsprachigen Literatur. Ihr neuer Roman knüpft an diese Erfolgsgeschichte an.
Joshua Groß: Prana Extrem
Auf der Bergiselschanze in der Tiroler Wintersportmetropole Innsbruck lernen der Erzähler Joshua und seine Partnerin Lisa im Frühsommer den sechzehnjährigen Michael kennen, ein österreichisches Skisprungtalent, das sich auf die neue Saison und seinen Angriff auf die Weltspitze vorbereitet. Als Joshua und Lisa in das Haus von Michael und seiner Schwester Johanna einziehen, entsteht eine Gemeinschaft auf Zeit. Trotz ihrer unterschiedlichen Sozialisierungen sind die Bewohner bald tief miteinander verbunden. Es geht dabei nicht nur um die persönlichen Beziehungen, sondern auch um gesellschaftliche Themen wie Ökologie, künstliche Intelligenz und den Umgang miteinander. Irgendwann stoßen noch Joshuas exzentrische, aber fürsorgliche Oma Suzet und die kleine Tilde dazu. Und so beginnt in diesem heißen Sommer an diesem beinahe unwirklichen Ort für alle eine Reise der Selbstwerdung.
Sabine Abel: "Der Titel des Buches enthält das Sanskrit-Wort ‚Prana', das im Hinduismus ‚Lebensenergie' bedeutet - und genau darum dreht sich diese Geschichte. Über allem schwebt die Klimakatastrophe als drohender Untergang, dennoch geht es um den Zusammenhalt und die Idee, freundschaftlich miteinander zu leben. Die Erzählweise ist spielerisch und virtuos, ohne sich in Künstlichkeit zu verlieren. Joshua Groß spielt mit Begrifflichkeiten und schreibt sehr klug, während er die aktuellen Themen in eine psychedelische Atmosphäre taucht. Die Welt, die er erschafft, ist bunt, grell und heiß - mit Riesenlibellen, Pflanzen aus anderen Klimazonen und surrealen Momenten. Der Leser kommt geradezu in einen Rausch, der ihn in eine Welt eintauchen lässt, die völlig fremd ist und dabei spannende, neue Perspektiven eröffnet. Das Buch ist ein Kunstwerk, das ich nicht nur gelesen, sondern erlebt habe - mit alle seinen Farben, Stimmungen und tiefgründigen Fragen zur Welt von heute."
Joshua Groß
Der Autor ist 1989 in Grünsberg bei Nürnberg geboren und hat mit ‚Prana Extrem' einen außergewöhnlichen Roman vorgelegt, der 2024 für den Leipziger Buchmessepreis nominiert wurde.
Dana von Suffrin: Nochmal von vorne
Rosa räumt die Wohnung ihres verstorbenen Vaters aus. Dabei wird seine jüdische Vergangenheit lebendig: die Migration von Siebenbürgen nach Israel während des Holocausts und der spätere Umzug nach Deutschland, in das Land der Täter. Und es kommen die verdrängten alten Familienkonflikte zum Vorschein. Denn die Geschichte von Rosas Familie ist ein einziges Durcheinander aus Streitereien, versuchten oder gelungenen Fluchten, aus Sehnsüchten und enttäuschten Hoffnungen und dem vergeblichen Wunsch, irgendwo heimisch zu werden. Plötzlich sind alle Erinnerungen wieder da: an Rosas irrwitzige Kindheit in den 1990ern, das Scheitern der Ehe der Eltern, die israelische Verwandtschaft und die verschwundene ältere Schwester.
Sabine Abel: "Was das Buch so besonders macht, ist die kunstvolle Verbindung von Tragik und Humor. Trotz der ernsten Themen hatte ich beim Lesen immer ein Schmunzeln auf den Lippen, was an der absurden Komik liegen mag, bei der sich die Figuren auf die Nerven gehen, aber trotzdem gernhaben. Dana von Suffrin versteht es meisterhaft, tonnenschwere Themen federleicht zu erzählen. Klug, witzig und liebevoll, dabei mit herrlich schwarzem Humor. Die erzählerische Kraft und emotionale Tiefe lassen mich vermuten, dass viel Autobiografisches in diesem Roman steckt. Ein kleines Meisterwerk."
Dana von Suffrin
Die Autorin wurde in München geboren, hat hier studiert und promoviert. Sie verbrachte einige Semester in Jerusalem und Neapel und veröffentlichte schon früh kurze Texte. Ihr Debütroman ‚Otto' war bereits ein großer Erfolg, der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Darin erzählt sie die Geschichte einer dysfunktionalen jüdischen Familie, in deren Mittelpunkt die Vaterfigur Otto steht - ein polternder Charakter, der allen das Leben zur Hölle macht, unter dessen ruppiger Schale jedoch immer wieder Witz und Menschlichkeit hervorblitzen.
Viel Freude beim Lesen wünschen Sabine Abel und "Wir in Bayern"!
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