BRIGITTE CALLS ME BABY – The Future Is Our Way Out

Kollege Thomas Mehringer hatte die Chicagoer in unserer „Bands To Watch-2024“-Liste. Nun kommt endlich das Debüt. Und man kann beim brillanten Gesang von Sänger Wes Leavins eigentlich nur an einen Namen denken: an die glorreichen, frühen Tage von Morrissey. Brigitte Calls Me Baby hat auch etwas von der Unbeschwert-/Unbekümmertheit der Smiths. So wie Morrissey in jungen Tagen Vorsitzender des New York Dolls-Fan-Clubs war, pflegte Sänger Leavins in seinen Jugendtagen einen Briefkontakt mit der französischen Schauspielerin Brigitte Bardot. Den Albumtitel hat er mal vor lauter Übermut auf sein T-Shirt gekritzelt. Ein großen Unterschied zu The Smiths gibt es: die Amerikaner haben ein Keyboard dabei, was den Sound noch ein wenig wehmütiger uns sehnsuchtsvoller macht. Üppige Romantik triftt auf Jingle-Jangle-Pop, Crooner-Gesang auf eine klasse eingespielte Indie-Band. Fans schreiben in die YTB-Kommentare, dass sie sich nicht nur an die schwülstigen 80er erinnert fühlen, sondern auch an The Killers und Elvis´ Stimme. Stimmt.
Textlich hat Leavins ein Faible für Neurosen, für Glam, für Tragödien:

Und bezieht sich auf die Schauspielerin und das Playboy-Playmate, die mit 34 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam.

Vermutlich helfen solche Interessen beim eigenen Star- bzw. berühmt-Werden. Und schon wartet das renommierte Lollapalooza-Festival mit einem Booking. Wir sagen ihnen eine steile Karriere voraus. Dieses Debüt wird den Indie-Pop-Jahrgang 2024 prägen. (8,3 von 10 Punkten)

MESHELL NDEGEOCELLO – No More Water: The Gospel Of James Baldwin

Eine Hommage an den legendären afro-amerikanischen Autor, der am 2. August 100 Jahre alt geworden wäre. Der in New York geborene Schriftsteller und Aktivist schrieb über Rassismus und Sexualität: Er hielt es für einen Vorteil, arm, schwarz und schwul zu sein. Und wird heute – 36 Jahre nach seinem Tod – von vielen afro-amerikanischen KünstlerInnen verehrt und nicht erst seit BlackLivesMatter wiederentdeckt. Sein Roman „If Beale Street Could Talk“ wurde 2018 von Oscar-Regisseur Barry Jenkins als „Beale Street“ verfilmt und bekam einen Oscar. Und nun nimmt sich Grammy-Preisträgerin Meshell Ndegeocello Baldwin an. Sie liest schon lange seine Essays und Gedichte oder besucht Aufführungen seiner Theaterstücke: „spirituelle, lebensverändernde Texte“ seien es für sie. Erst durch ihn hätte sie die schwierige Geschichte der Ethnie und des Klassenkampfes in den USA verstanden. Am Album hat sie acht Jahre gearbeitet. Dazu hat sie auch Spoken-Word-PerformerInnen wie Staceyann Chin und Hilton Als ans Mikro geholt. Der Titel „No More Water“ stammt aus einem Spiritual, in dem es biblisch heisst: „No More Water, The Next Time Fire“. Musikalisch bewegt sich Ndegeocello wie immer zwischen Soul, Jazz und Funk – mit einigen Gospel-Momenten. Dazu westafrikanische Anleihen und z. T. Dub-Sounds.

Im November präsentiert sie das Tribute-Album, das ihr bei der eigenen Selbstfindung half, in Mannheim, Köln und Berlin. Eine Pflicht für alle Amerika-Fans. (8,0 von 10 Punkten)

ORVILLE PECK - Stampede

Der queere Cowboy, der sein Gesicht verbirgt, gibt Country einen weiteren queeren Klaps auf den Po. Bei den vielen, zum Teil delikaten Duetten begrüßt er unter anderem Elton John, Kylie Minogue und Willie Nelson. Mit dem er gleich das erste Stück singt: „Cowboys are frequently, secretly fond of each other“. Als Peck den queeren Song von Ned Sublette 2006 das erste Mal coverte, war es noch eine Sensation im damals noch rein redneck-igen Country. Nun, nach Brokeback Mountain, Lil Nas X und Beyoncé ist genug Platz für neue Cowboy-Helden und Männerbilder in Gottes weiter Prärie. Elton John dürfte sich bestimmt gefreut haben, als Peck ihn bat, seinen 70er-Jahre-Klassiker „Saturday Night's Alright for Fighting“ zu zweit neu einzusingen – mit der Textzeile „to get about as oiled as a diesel train". Man merkt ihm auch das Schauspiel-Talent an: Er spielte in London Theater (u. a. Peter Pan). Der in Südafrika als Daniel Pitout geborene Künstler war Schlagzeuger der kanadischen Punk-Band Nü Sensae, entdeckte bald den klassischen Country, zog nach L.A., solidarisierte sich mit Black Lives Matter, coverte Bronski Beats Coming-Out-Hit „Smalltown Boy“ und trat bei RuPaul's Drag Race auf. Auf „Stampede“ („Massenpanik“) treffen auch Diplo und Beck auf Peck, der mit seinem dritten Album noch größer werden sollte. Verglichen mit den HipHop-beeinflussten Country-Songs von Lil Nas X und Beyoncé dürfte Orville Peck der Erneuerer werden, der am weitesten wirkt. Bwz. den anhaltendsten Einfluss auf das klassische Nashville-Genre hat. (7,9 von 10 Punkten)

CHRYSTABELL + DAVID LYNCH – Cellophane Memories

David Lynch tut sich zum 3. Mal mit US-Schauspielerin/Musikerin Chrystabell für ein Album zusammen. Seine Fans kennen sie: Chrystabell spielte in der dritten Twin Peaks-Staffel die FBI-Special Agentin Tammy Preston. Auf dem Presse-Foto des Labels halten sie Händchen. „Cellophane Memories“ erscheint auf dem feinen US-Label Sacred Bones – Heimat so exquisiter Acts wie Amen Dunes oder Jenny Hval, aber auch von Soundtrack-Machern wie John Carpenter oder Squirl (mit Jim Jarmusch). Die beiden Vorab-Songs, die ich hören konnte, klingen nach typischem Lynch-Melancholia-Score und machen neugierig aufs ganze Album. (keine Wertung möglich)

WHY? - The Well I Fell Into

Er war einer der Köpfe des Anticon-Labels und gilt als Mit-Erfinder des Indie Rap – der HipHop für (weiße) Indie-Fans etablierte. Anticon, das Label mit der Ameise als Logo, gab es von 1998-2018. Dort veröffentlichten auch die Young Fathers aus Schottland und 13 & God – der Zusammenschluss von The Notwist mit dem US-HipHop-Duo Themselves. Hinter Why? steckt Yoni Wolf aus Cincinatti – der diesmal noch mehr von den klassischen Rap-Beats weggeht und dessen Sound kaum weiter vom mega-erfolgreichen Trap-Rap seiner US-KollegInnen entfernt sein könnte. Er franst Richtung Psychedelic, Folk und Pop aus. Was die Fans schon von seinen anderen Projekten Clouddead oder Hymie´s Basement kennen. Er bringt die Platte auf seinem neuen Label "Waterlines" heraus und sagt zu seinem achten Solo-Album:

Es ist ein Werk, auf dem er viel zurückblickt: wenn man manchmal den Kontakt zu sich selbst verliert und den Faden zur Gegenwart erst wieder finden muss: und wenn es ein Brunnen ist, in den man gefallen ist – siehe Albumtitel „The Well I Fell Into“. Aufgenommen wurde es im Bon Iver-Studio in Wisconsin, in dem auch schon Sufjan Stevens abmischte. Auch wenn Why? inzwischen wie aus einer längst vergangenen HipHop-Epoche klingt, ist sein Pop-Approach jedoch weiter extrem spannend: auch dank seiner immer noch einnehmenden Stimme („Obama/Karma/Drama). Und „Versa Go“, „Nis(san)“ und „Sin Imperial“ sind einige Stücke, die vor zehn – 15 Jahren viel in unseren Sendungen gelaufen wären. Nach den ewigen 80er+90er-Revivals sind nun mal die Nuller dran. Danke, Why?! (8,2 von 10 Punkten)

JPEGMAFIA – I Lay Down My Life For You

Der US-Alternative-Rapper mit einem gewohnt experimentell gehaltenen, sprich ziemlich abwechslungsreichen Album – von Metal-Gitarren über Dance-Beats bis zu soulfullen jazzy HipHop-Tunes. Auf seinem fünften Werk hat der New Yorker Gäste wie die Rap-Kollegen Vince Staples und Denzel Curry – aber auch Buzzy Lee, Tochter von Regisseur Steven Spielberg, ist wieder dabei. Jpeg präsentiert das volle Spektrum: einmal mehr eine Platte breitgefächert - wie ein Mixtape. Barrington DeVaughn Hendricks, so sein bürgerlicher Name, spielt hier seine Einflüsse aus: Computerspiele, Industrial, die Bad Brains. Er rappt hier über Themen wie „Vulgar Display Of Power“, „Either On Or Off The Drugs“ oder „Exmilitary“. Hendricks, der als GI in Deutschland seinen Dienst für die US-Army absolvierte, kommt für ein Konzert nach Berlin: 20. Januar im Huxleys. Jpegmafia bleibt eine der undefinierbarsten Charaktere im US-HopHop – nicht zuletzt wegen seiner Freundschaft zu Kanye West. Auch wenn Jpeg eher der Anarcho-libertinäre Typ ist. (7,7 von 10 Punkten)

WEEN – Chocolate & Cheese (30th anniv. Deluxe Edition)

1994 landeten die beiden Amis damit einen Erfolg in der Indie-Szene, die sich nach Grunge allmählich für Folk, Country, Lo-Fi und Experimental-Sound öffnete. Die angeblichen Brüder Dean und Gene Ween aus Pennsylvania waren ein stets unberechenbares Duo, das es sogar zu mehreren Major-Veröffentlichungen brachte. Ihr (Jungs-/Nerd-)Humor – man höre Songtitel wie „Waving My Dick In The Wind“, „Flies On My Dick“ oder „Piss Up A Rope“ – brachte sie in MTVs „Beavis and Butthead“ bzw. auf den Soundtrack von „South Park“. Heute sagen Musiker wie Kurt Vile, dass Ween ein großer Einfluss waren. Und es gibt Ween wieder – nachdem Aaron Freedman/Gene eine Drogen- und Alkohol-Reha gemacht hat. „Chocolate & Cheese“ war die LP, auf der sie sich an 70er-Pop/Rock/Soul probierten – und mit „Drifter In The Dark“ und „Baby Bitch“ ihr Ziel erreichten. Spike Jonze drehte ein Video zu „Freedom Of '76“. Die mexikanisch angehauchte Killer-Drama-Ballade „Buenos Tardes Amigo“ liefe heute wegen ihres (aufgesetzt wirkenden) Spanisch-Akzentes unter „kultureller Aneignung“, ist aber noch immer in ihrer eigenen Liga. Zu den 16 geremasterten Originalen packt das Reissue-Label Rhino/Warner nochmal 15 Bonus-Tracks drauf. Der Re-Release wird dafür sorgen, dass diese Underground-Band sowohl finanziell als auch in der digitalen Wahrnehmung bestehen wird: Einige Songs der Platte sind ohnehin schon millionenfach geklickt. (8,0 von 10 Punkten)

THE POLICE – Synchronicity (40th Anniversary Super Deluxe Edition)

Mit den Monsterhits "Every Breath You Take", "Wrapped Around Your Finger" und "King Of Pain" verabschiedeten sie sich vor 40 Jahren Richtung Solo-Karrieren. Zum Jubiläum kommt das letzte Album von The Police in diversen Fan-Formaten: CD, Doppel-CD, 4-fach-CD, 6-fach-CD, LP, 3-LP-Set, Kassette – auf der digitalen Streaming-Version sind es 84 (!) Tracks – unter anderem Live-Mitschnitte, Outtakes, Demo-Versionen, instrumentale Backing Tracks, alternative Mixes, remasterte Versionen. Allein "Every Breath You Take" ist siebenmal darauf. So wird das Lied bald mehr als die ohnehin schon zwei Milliarden Streams (bei Spotify) haben. Aber alles in allem hören wir, dass sich Sting, Andy Summers und Stewart Copeland keinesfalls mit einem dünnen Abschlussalbum verabschiedet hatten. Man muss es sich nochmal vor Augen halten: Das englische Trio war damals so groß, dass nicht Michael Jacksons Jahrhundert-Hit "Billie Jean" den Grammy für den besten Song des Jahres einheimste, sondern "Every Breath You Take" von The Police. Schöne Gelegenheit, Songs wie das extrem entspannte "Tea In The Sahara", das paranoide "Mother" oder das funky "Miss Gradenko" (wieder) zu entdecken. (7,9 von 10 Punkten)

LINA FILIPOVICH – Idealized

Magischer Electro einer belarussischen Künstlerin, die in Paris lebt. Vor allem, wenn es dubby daherkommt wie beim Opening-Track. Lina Filipovich liefert auf ihrem Debüt für das britische IDM-/Electro-Label Central Processing Unit aber auch straight-bollernde Tech-Tracks ab. „Machine-Funk jams meets braindance“, wie es die Plattenfirma aus Human League-City Sheffield beschreibt. Lina liebt es multimedial: Sie findet Sounds auch in Filmen und arbeitet auch als Malerin und Performerin. Hinzu kommt bei dem Multitalent klassische Komposition: Beim Debüt verarbeitete sie Rachmaninov-Samples. Ihr Horizont reicht auch zu Pole und dem Berliner Dub Techno. Und sie hat offensichtlich einen Lauf: Nach der „Music For An Imaginary Dancefloor“-EP vom Mai folgt nun ein Longplayer. Doch, doch: Diese Musik wird ihre Tanzböden finden. (7,6 von 10 Punkten)

DAVE DK – Herzen Auf EP

Der Berliner DJ und Produzent David Krasemann mit einer neuen Maxi fürs Label von Hamburgs DJ Koze. Der Ex-Tresor/Globus-Resident wandelt zum Teil auf dessen Pfaden – wie bei "Don’t Eat The Homies" – mit einem markanten, female Vocal-Sample, das sich mit reichlich Soul in den House-Sound hineinschmiegt. Auch der Titeltrack hat diesen sanften Deep House-Touch. Feine EP von Dave DK, die ab morgen den Sommer versüßen wird! (8,1 von 10 Punkten)

AMI WARNING – Auszeit

Die Münchner Musikerin mit neuen Songs zwischen Singer-Songwriter-Pop, leichten Hip-Hop-Beats und einem Fatoni-Feature. Auf ihrer Platte geht es der Tochter der Münchner Reggae-Legende Wally Warning um Themen wie Selbstzweifel, Stressabbau und die Gedanken dazu bzw. die Folgen: „Auszeit“ – so der Albumtitel. Sie sagt:

"Wenn man es schafft, sich nach einer schlimmen Trennung neu zu verlieben, nach einer gescheiterten Idee wieder neue Pläne zu schmieden und in schmerzhaften Momenten anwesend zu sein, ist man am Leben. Keiner weiß, was als Nächstes kommt, und ich glaube, das Einzige, was wir dem Leben schulden, ist, dabei zu sein." Warning, Amy

Sie präsentiert die Songs, die sie mit Gästen sowie einer weiteren Gitarre, Bass, Keyboard und Drums einspielte, ab November: Am 6.11. ist Tourstart im Muz-Club/N, u. a. am 16.11. im Würzburger Cairo, am 21.11. im Haberkasten in Mühldorf und am 22.11. im Ampere in München, dem Heimspiel. (7,4 von 10 Punkten)

SIMON FISHER TURNER – Instability Of Signals

Seit den 70er Jahren hat Simon Fisher Turner bei vielen Underground-Musik-, Film- und Kunstprojekten mitgewirkt, u. a. an Filmmusik für den verstorbenen britischen Regisseur und Gärtner  Derek Jarman. Auf seinem neuen Solo-Album gibz avanciertes Knistern zwischen Hörspiel, Installation und Soundtrack. Dominiert von Klavier, Streichern, leisen Stimmen und Field Recordings. Dazu Gedicht-Fetzen von Harold Pinter und Sounds vom Vater vom Schauspielerin Tilda Swintons. Geholfen hat Fisher das Elysian Collective, das live schon für Pulp spielte. Seine eigenen Texte beschreibt SFT:

"So fühle ich mich, ohne mich auf eine Seifenkiste zu stellen und zu schreien." Fisher Turner, Simon

Die Fans von Brian Enos Ambient Musik sollten ihr auf ihre Kosten kommen. (7,5 von 10 Punkten)