Das Thema Lysozym
Über die Umstände der Lysozym-Entdeckung kursieren widersprüchliche Versionen, die meisten Biografen modellieren den Hergang nach dem Muster der glücklichen Fügung.
Lysozym: Der Testlauf für einen Jahrhunderttreffer
Der gängigsten Überlieferung zufolge züchtete der arg verschnupfte Forscher gerade Bakterienkulturen, als er die Nährlösung auf einer Petrischale zufällig mit seinem Nasensekret verunreinigte und überrascht bemerkte, dass die Ausscheidung den Bakterienflor aufzulösen begann. Flemings eigene Rückschau fällt nüchterner aus. Danach bestrich er im Zug ausgedehnter Untersuchungen einen Nährboden aus Blut und Agar über mehrere Tage hinweg bewusst mit dem Nasensekret eines stark erkälteten Patienten. Während der ersten Tage wuchsen auf den Blutagarplatten erwartungsgemäß nur Kolonien des Bakteriums Staphylococcus aureus. Am vierten Tag wurde der Bakterienflor an etlichen Stellen durchsichtig und schien sich aufzulösen. Im Nasensekret des Patienten, so Flemings Schluss, musste sich eine Substanz gebildet haben, die den Krankheitserreger angriff und zersetzte.
Ein Enzym, das Bakterien auflöst
Flemings Jagdinstinkt ist geweckt, Folgeexperimente mit einer konzentrierten Sekretlösung schaffen Gewissheit. Die Körperflüssigkeit muss ein natürliches Enzym enthalten, mit dem der Organismus eingedrungene Erreger abwehrt. Was nun folgt, ist gewiss kein glückhaftes, vom Zufall geleitetes Stolpern, sondern systematische Forschung. Fleming vermutet die bakterienhemmende Substanz überall dort, wo der Körper eingedrungene Keime bekämpft: Im Nasenschleim, im Speichel und in der Tränenflüssigkeit, auf die er sich jetzt konzentriert. Das nötige Testmaterial liefern Laborangestellte. Fleming zerquetscht Zitronenschalen vor ihren Augen und impft seine Keimkulturen mit den so "abgemolkenen" Tränen. Die Ergebnisse sind eindeutig: Sowohl im Nasensekret wie in der Tränenflüssigkeit steckt ein keimzersetzendes Stoffwechselprodukt. Medizinisch ausgedrückt handelt es sich um ein Enzym, das Bakterien lysiert, also auflöst. Fleming kombiniert beide Begriffe und tauft seinen Findling auf den Namen "Lysozym".
Ein Schatz für die Schublade
Doch ein entscheidender Haken bleibt: Wissenschaftlich ist die Entdeckung zweifellos interessant, medizinisch aber völlig belanglos. Lysozym hält ausschließlich harmlose Erreger in Schach, wirkt jedoch nicht gegen wirklich gefährliche Infektionskrankheiten wie Milzbrand, Tuberkulose, Meningitis, Wundbrand, Blutvergiftung, Diphtherie oder Syphilis. Gegen diese Erzgeißeln der Menschheit kommt der Stoff nicht an, ein therapeutischer Nutzen ist nicht zu erwarten. Die 1922 in den "Proceedings" der Royal Society of London publizierten Arbeitsergebnisse Flemings bleiben daher weitgehend unbeachtet.
Das Werkzeug liegt bereit
Trotzdem ist der Fund ein wichtiger Testlauf für den späteren, den eigentlichen Haupttreffer in seiner Forscher- und Finderkarriere. Zum einen weiß er nun sicher, dass die Suche nach natürlichen antibakteriell wirksamen Substanzen keine Phantomjagd ist. Zum anderen, und das ist vielleicht der entscheidende Beitrag des Lysozyms zur Medizingeschichte, hat der Wissenschaftler ein Wahrnehmungswerkzeug geschärft, das ihn sechs Jahre später davor bewahrt, eine der wichtigsten Menschheitsentdeckungen achselzuckend zu ignorieren.