Die Schlange Schlangengifte in Wissenschaft und Aberglaube
So ambivalent die Schlange insgesamt ist, so ambivalent ist auch ihre gefährlichste Waffe, das Gift. Es kann lähmen, extreme Schmerzen hervorrufen, Organe, Muskeln und Nervenzellen schädigen und sogar töten. Das ist die eine Seite. Andererseits kann Schlangengift auch heilen. Zum einen als Gegengift bei Schlangenbissen, zum anderen in niedrigen Dosierungen als Medikament. Auf die Spitze getrieben ist diese Dualität im griechischen Begriff "pharmakon", der sowohl "Arznei" wie auch "Gift" bedeutet.
Theriak und Co: Die Schlangenmedizin des Mittelalters
Das Wissen um den pharmakologischen Nutzen der Schlange gehört seit der Antike zum festen Bestand der Arzneimittelkunde und behauptet auch in der medizinisch-zoologischen Literatur der Neuzeit seine Stellung. Tragend ist dabei die Vorstellung, dass sich der Schlange zugeschriebene Eigenschaften, vor allem ihre Regenerationsfähigkeit, in die Arznei übergehen. Als besonders wirksam und lebensverlängernd gelten daher Präparate auf der Basis zerstoßener, aufgelöster oder ausgekochter Schlangenhäute. Zu andauerndem Ruhm bringt es vor allem der Theriak, ein von der Antike bis in die Neuzeit gebräuchliches Allheilmittel, Universalgegengift, Lebens- und Verjüngungselixier, dem Schlangenbestandteile beigemengt werden.
Zuo vilerley kranckheiten fuertrefflich guot
So leitet etwa der Naturforscher und Arzt Conrad Gessner (1515-1565) eine Aufstellung entsprechender Rezepturen in seinem "Schlangenbuoch" von 1551 mit der Feststellung ein: "Die schlang ist zuo vilerley kranckheiten und prästen [Gebresten] fuertreffentlich guot und bequem / wirt auch offtermals in der artzney gebraucht / unnd ist auß dieser ursach dem Aesculapio / der artzt agbott / zuogeignet worden". Und noch der berühmte "Zedler", ein maßgebliches Universallexikon des frühen 18. Jahrhunderts, listet seitenweise Salben, Tränke, Pulver, Tinkturen, Pflaster und andere Arzneien auf, die aus Gift, Haut, Knochen, Zähnen, Fleisch und Innereien von Schlangen gewonnen werden. "Ihr Fleisch, Leber und das Hertz treiben den Schweiß dienen wider die schädlichen Feuchtigkeiten in dem Leibe, reinigen das Blut und treiben den Urin", vermerkt ein Rezept. Ein anderes richtet sich an gebärende Frauen: "Die schwangeren Weiber, wenn sie in schweren Kindsnöthen liegen, solten sie die Schlangengalle in ihr Geträncke hängen, und davon ein wenig trincken, das entledigt sie bald von ihren harten Banden."
Wiedergeburt: Die Renaissance der Schlangenmedizin
Aus heutiger Sicht muten viele dieser Rezepturen befremdlich an, weil die behaupteten Heilwirkungen in symbolischen, allegorischen und magischen Vorstellungen wurzeln. Für eine Welt, die in geheimen Wirkungszusammenhängen denkt und von äußeren Merkmalen oder Ähnlichkeiten auf innere Kräfte schließt, ist die "Schlangenmedizin" jedoch ein ernsthaftes, durch und durch rationales Verfahren.
Die Gegenwart hat für das Gros der mittelalterlichen Schlangenrezepturen nur mehr ein amüsiertes Lächeln übrig, ganz ohne Schlangen kommt aber auch sie nicht aus. Zum einen spielen Schlangengifte in vielen Naturheilschulen und zumal in der Homöopathie eine große Rolle, wo sie zur Abwehrsteigerung, gegen Allergien, als Blutverdünner und zur Behandlung von Herzbeschwerden, Bluthochdruck, Kopf- und Nervenschmerzen sowie entzündlicher Krankheiten dienen. Darüber hinaus erlebt die "Schlangenmedizin" auch in der wissenschaftlichen Pharmakologie seit einigen Jahrzehnten eine regelrechte Renaissance. Aus Schlangengift isolierte Wirkstoffe bewähren sich als hochpotente Blutdrucksenker oder Blutgerinnungshemmer und rücken als Medikamente zur Therapie von Herz- und Krebserkrankungen zunehmend ins Interesse der Arzneimittelforschung.