Bayern 2 - radioWissen


4

Die Schlange Die heilende Kraft der Schlange

Stand: 06.09.2012 | Archiv

Äskulapnatter | Bild: picture-alliance/dpa

Die Doppelnatur der Schlange mit ihren bedrohlichen und zugleich schützenden Aspekten ist ein weit über den alten Orient hinaus bekanntes und in vielen Kulturen tief eingewurzeltes Phänomen. So erscheinen Schlangen auch im griechischen Mythos einerseits als Wesen der Unterwelt und des Totenreiches, als mörderische, bösartige, feindselige Ungeheuer und Repräsentationen bedrohlicher Naturaspekte. Andererseits sind sie als chthonische Wesen eng mit verborgenem Wissen, Weisheit und prophetischen (mantischen) Gaben verbunden. Ihre Nähe zur Erde, in der heilende Kräuter und Pflanzen gedeihen, macht sie zu Trägern und Vermittlern heilkundlicher Geheimnisse.

Der Boden als Sphäre verborgenen Heilwissens

Auf der mythischen Verbindung mit heilenden Erdkräften fußt eine verbreitete Schlangensymbolik, die auch in der Natter des Heilgottes Asklepios und seinem Kult aufscheint. Im Mythos ist Asklepios ein Sohn Apolls, den der Kentaure Chiron so erfolgreich in die Geheimnisse und magischen Praktiken der Heilkunst einweiht, dass er schließlich sogar Tote zum Leben erweckt. Dieses Wunder bringt Asklepios mithilfe eines Krauts zuwege, das ihm eine Schlange aus einem Grab herbei schafft. Die Götterwelt ist über diese Tat alles andere als "amused". Mit der Überwindung des Todes hat sich der sterbliche Mensch ein Vorrecht der unsterblichen Götter angemaßt und so die Ordnung der Welt gefährdet. Da Hades fürchtet, dass fortan kein Mensch mehr sterben und sein Totenreich entvölkert würde, stachelt er Zeus dazu auf, den Frevel zu rächen. Der Göttervater erkennt die Notwendigkeit einer drastischen Ordnungsstrafe und tötet Asklepios durch einen Donnerkeil, den ihm die Kyklopen geschmiedet haben. Damit kommt Zeus in Konflikt mit Apoll, der aus Wut über die Tötung seines Sohnes die Kyklopen erschlägt. Um sich mit Apoll zu versöhnen, versetzt Zeus den vergöttlichten Asklepios und seine Schlange schließlich unter die Sterne. Seither sind beide am nächtlichen Sommerhimmel im Bild des Schlangenträgers (Ophiuchus) zu sehen.

Nattern bringen Genesung

Als sich vermutlich im fünften vorchristlichen Jahrhundert der Asklepios-Kult ausbreitet, wird eine Schlange, die sich um seinen knorrigen Wanderstab windet, zum Attribut des Heilgottes und seiner ebenfalls als Göttin verehrten Tochter Hygieia. Von Epidauros ausgehend, entstehen zuerst in Griechenland, später auch im gesamten römischen Einflussbereich, einige hundert dem Asklepios geweihte Heilstätten und Medizin-Schulen (Asklepieia), in denen zahme, ungiftige Nattern gehalten werden. Die Äskulap-Nattern kriechen nachts in die offenen Schlafsäle, wo der häufig selbst schlangengestaltige Gott den Kranken im Traum erscheint und entweder sofortige Heilung oder zumindest Behandlungs- und Medikationsvorschläge unterbreitet.

Aus Asklepios wird Aesculap

Im dritten Jahrhundert vor Christus wird der Kult des Asklepios auch in Latium heimisch. Die näheren Umstände dieser Einbürgerung erzählt Ovid im 15. Buch der Metamorphosen. Sie beginnt damit, dass eine römische Gesandtschaft nach Epidauros reist, um sich von Asklepios Hilfe gegen eine Pestepedemie zu erbitten. Der Gott sichert seinen Beistand zu und begibt sich in Gestalt einer Schlange an Bord des Schiffes, das ihn nach Rom bringt. Hier nimmt er nach der Landung, noch immer in Schlangengestalt, seinen Wohnsitz auf der Tiberinsel. Allein durch ihre Ankunft setzt die "phöbische Schlange" dem "Jammer ein Ziel" und vertreibt die Pest aus der Stadt.

Der Äskulapstab als Standeszeichen

Spätestens damit beginnt die Karriere der Äskulap-Natter als weltweit verbreitetes Symbol der Heilkunst. Noch heute verwenden Pharma- und Biotechfirmen, Kliniken, Ärzte, Heilberufe sowie medizinische Einrichtungen und Organisationen den von einer oder zwei Schlangen umwundenen Äskulapstab (baculus Aesculapii) auf Logos und Firmenschildern, um ihre Zugehörigkeit zum medizinischen Fach auszuweisen.


4