Die Schlange Schlange, Frau und Sex
Ein äußerst mächtiges Werkzeug, dessen sich die "alte Schlange" bevorzugt bedient, um den Menschen zu verführen, ist die Sexualität. Genauer gesagt, die Sexualität der Frau. Schon den heiligen Antonius, den großen Asketen, Einsiedler und Begründer des Mönchtums, quälte der teuflische Verführer in Gestalt einer nackten, verführerischen Schönheit. Antonius blieb standhaft und lieferte damit das Muster für den korrekten Umgang mit fleischlichen Begierden: Sie sind teuflischen Ursprungs und daher zu überwinden. Die Sünde des Fleisches, verkörpert in der alten Schlange, war ein Gräuel und der Unterleib ihr bevorzugtes Einfallstor. "Mein alter Adam, frech und geil, betrog um mich um mein besser Teil", klagt exemplarisch ein Verdammter im 1463 entstanden Lübecker Totentanz.
Schoß und Höllenschlund: Schlagt die Schlange, trefft die Sünde!
Für Peter Paul Rubens (1577-1640) und seine Zeitgenossen war die Sache auch noch klar. Die Schlange ist der Satan, das aufgerissene Maul der Hölle, die alles verschlingende Sünde, die es abzuwehren und niederzuringen gilt. Wo immer die phallische, die geile Schlange im Zusammenhang mit Nacktheit und Sexualität abgebildet oder beschrieben wird, ist sie eindeutig ein Symbol des Bösen, eine abschreckende Warnung vor Tod und Verdammnis. Und wo immer sie auftritt, braucht es einen sittlich gewappneten Helden, der sie mit dem Schwert der Tugend niedermetzelt und ihr den Speer der Glaubensstärke in den aufgerissenen Höllenrachen stößt.
Der Reiz des Verbotenen
Dreihundert Jahre und eine Aufklärung später sieht die Sache anders aus. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat die Kirche ihre bislang unangefochtene Deutungshoheit über das Wesen des Menschen und sein Handeln eingebüßt. Ihr ideologischer und moralischer Primat bröckelt, die Psychologie entdeckt den Menschen als Geschöpf seiner selbst und die Verdrängung und Ächtung des Sexuellen als Krankheitsursache. Die Schlange im sexuellen Kontext ist zwar immer noch böse, aber nun schwingt etwas anderes mit, ein erstes, wenn auch noch vages und maskiertes Umwerten der Sexualität und ihrer symbolischen Verkörperung.
Im Zwielicht der lockenden Schlangenkönigin
Einen seltsam zwiespältigen, unbestimmt zwischen Lust und Schrecken changierenden Ausdruck findet der allmähliche Wandel in der Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Auf den Gemälden Franz von Lenbachs (1836-1904) und Franz von Stucks (1863-1928) wimmelt es von Schlangen. Sie winden sich verführerisch um ebenso verführerische, nackte Frauenkörper, schlängeln sich phallisch, lüstern, lasziv zwischen prallen Schenkeln hervor. Die Bilder tragen Titel wie "Sinnlichkeit", "Sünde", "Laster" oder "Schlangenkönigin" und lassen an schwüler Doppeldeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Sicher ist die Schlange die Sünde, aber sie hat etwas düster Verlockendes, das sie aus der verborgenen Unterwelt der Seele, aus dem Reich unterdrückter Triebe, Wünsche und Träume nach oben an die Erde, ans Halblicht kaschierter Begehrlichkeit trägt. In ihrer neuen, zeitgemäßen Häutung offenbart sich die Schlange, von Sigmund Freud (1856-1939) als Symbol des männlichen Gliedes gedeutet, als Verkörperung verdrängter Begierden und verbotener Gelüste. Aber noch ist sie nicht wirklich rehabilitiert, noch haftet ihr unter der schillernden, lockenden Haut das Bedrohliche an. Die Sünde reizt, aber sie bleibt Sünde, und hinter dem erregenden Umschlingen lauert das tödliche Verschlingen, lauert der Höllenschlund.
Ursymbol Schlange: Die Rehabilitation einer verfemten Dimension
Noch einmal hundert Jahre später hat sich das Blatt erneut gewendet. Die Austreibung des weiblichen Schöpfungsanteils durch männliche Götter, die Abwertung der Frau und des Weiblichen, die Doktrin des Sündenfalls und der Siegeszug des Patriarchats trugen lange Zeit zur Verteufelung der Schlange bei. Durch die Bejahung der Sexualität, die Renaissance mythischen Wissens, die Öffnung für außereuropäische Kulturtraditionen, das Aufbrechen religiöser Zwänge und nicht zuletzt durch die Emanzipation der Frau aus patriarchalischen Rollenzuweisungen hat sich das Schlangenbild der Gegenwart nachhaltig verändert. Nach zwei Jahrtausenden einseitiger christlicher Dämonisierung wird der Blick wieder frei für eines der ältesten Symbole der Menschheit. Dieser neue Blick entdeckt die Schlange wieder als das, was sie vor der christlichen Zeitenwende neben aller Bedrohlichkeit und negativer Aspekte eben auch war: Eine Verkörperung schöpferischer Kräfte, eine Manifestation gebärender, schützender, heilender Mächte, eine Inkarnation weiblicher Potenzen, weiblichen Wissens und weiblicher Gottheit.