Bayern 2 - Nachtmix

Neuerscheinungen der Woche Neue Alben von 070 Shake, Michael Kiwanuka und Warmduscher

Welche relevanten Platten erscheinen morgen, was sollte man sich davon nicht entgehen lassen – und worauf kann man vielleicht auch besser verzichten? Unser Neuheiten-Check in den Late Night Sounds, mit u.a. 070 Shake, Sofie Royer, Warmduscher und Michael Kiwanuka

Von: Katja Engelhardt

Stand: 15.11.2024

Sofie Royer posiert auf einem Bett | Bild: Jasmin Baumgartner

070 SHAKE – Petrichor

Auf ihrem dritten Album nimmt 070 Shake Abschied vom Autotune – und sich die Freiheit, verschiedenste Genres anzureißen. Aber eben auch wirklich nur anzureißen. Das ist auf Songebene so spannend, wie es auf Albumebene auch mal fordernd ist. Einen Teil ihrer Geschichte trägt 070 Shake im Gesicht: Das 070 aus ihrem Künstlernamen ist auf ihr linke Schläfe tätowiert und ist die Postleitzahl aus ihrer Heimat in New Jersey und Namensteil eines Kollektivs, das sie mitgegründet hat. Dani elle Balbuena, wie sie heißt, wurde sie von Kanye West gesignt und hat mit Beyoncé gearbeitet. Und in den deutschen Charts war sie auch schon weit oben vertreten, dank eines Features mit dem deutschen Rapper Ufo361 und der Biennale-Künstlerin Anne Imhoff. Und in der deutschen Klatschpresse landet sie auch immer wieder einmal, als Freundin von Lily-Rose Depp – der Tochter von Vanessa Paradis und Johnny Depp, die auch im Musikvideo zu 070 Shakes Single „Winter Baby / New Jersey Blues“ mitspielt. Trotz all den großen Namen und dem vermeintlichen Glamour: Zu ihrer Geschichte gehört auch, dass sie es nicht leicht hatte. Großgezogen wurde 070 Shake wegen finanziellen Schwierigkeiten nicht nur von ihrer Mutter, sondern auch von ihrer Oma in der dominikanischen Republik und von Verwandten in Colorado. Sie hatte eine schwere Schulzeit, war depressiv. Mein Eindruck von „Petrichor“ ist der von der Suche nach einem Zuhause, nach einem warmen Ort, an dem man sich – einmal durchgefroren – wieder aufwärmen kann. (8 von 10 Punkten)

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070 Shake - Winter Baby / New Jersey Blues

SOFIE ROYER – Young-Girl Forever

Wer sagt denn, dass man zu persönlichen Krisen nicht tanzen kann? Das neue Album der US-amerikanischen Wahl-Wienerin heißt „Young-Girl Forever“. Wie und woran der eigene Wert einer Konsumgesellschaft bemessen wird – das treibt Sofie Royer um. Laut Sofie Royer wird uns schon früh eingeimpft, dass man an seiner Leistung gemessen wird. Also muss man auch abliefern. Sie selbst hat als Kind Geige gespielt, sie hat rhythmische Sportgymnastik gemacht und Ballett getanzt. Diese Frau weiß, was Leistung ist. Auch wenn die Sounds ab und an umschmeichelnd entspannt sind – Sofie Royer zermartert sich das Hirn auf englisch, französisch – und deutsch.

Dass ihre Musik über das ständige Sich-selbst-zur-Ware-machen dabei so eingängig ist, wie kaum bisher, ist vielleicht auch ein Hinweis auf das Funktionieren in der Konsumgesellschaft? In jedem Fall ist es schlauer Pop, der auch von Royers musikalischem Wissen zeugt. Von Air und anderen französischen Producern bis hin zu Nico mögen einem beim Hören Referenzen einfallen, die Royer – die auch für das Label Stones Throw gearbeitet hat – mit Sicherheit differenziert auseinandernehmen könnte. In Deutschland ist bisher nur ein Konzerttermin bekannt: Am 30. November in Berlin, in der Berghain Kantine. (9 von 10 Punkten)

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Sofie Royer - Young-Girl (Illusion) [official video]

CAVA – Powertrip

Die tragen den Schaumwein als Namen und ihr neues Album beginnt auch gleich mit einem lauten Plopp. Das Berliner Garage-Rock-Duo CAVA hat sich auf Instagram kennengelernt, auf so etwas wie einem digitalen schwarzen Brett für alle, die in Bands spielen wollen. Gegründet von der Band Gurr. Ein bisschen was haben CAVA und Gurr gemeinsam: Es sind weibliche Duos aus Berlin, mit DIY Ästhetik und einem hervorragenden Live-Ruf. CAVA bringen ihr zweites Album raus und haben seit dem Erstling ihre Songs noch weiter runtergekocht. Zwei Minuten lang sind sie im Schnitt.

CAVA sind sehr oft sehr politisch – aber nicht verkopft. Die Themen scheinen eher in ihrem Alltag aufzutauchen: Begehrlichkeiten, Notwendigkeiten, Hindernisse und Gefahren. Neben den prekären Lebensumständen als Künstler:in geht es etwa um das Ende einer Beziehung, um die Frage von Macht und Selbstbestimmung („Control“) oder um einen Stalker, der Kontrolle ausübt – auch, indem er öffentliche Räume in Beschlag nimmt, allein durch seine kalkulierte Anwesenheit („(Not) Nice“). CAVA schrecken nicht zurück, sondern trotzen den Umständen. Was mich beim Hören oft hat denken lassen, wie schön das gewesen wäre, wenn ich CAVA in meinen Teenagerjahren gehört hätte. Auch das ist ein Thema der Band: Die wenigen Vorbilder im Bereich Rock, die sie früher hatten. Jedenfalls ist CAVAS Losung: „We will fight!” Laut sein ist immer eine Option. Live sowieso. Bisher auch im Vorprogramm von Bands wie den Idles oder den Beatsteaks. Einige Tourdaten gibt es schon, von Ende November bis Mitte März sind Peppi und Melam, wie die beiden heißen, fast überall. Es lohnt sich, den Tourplan auf seine eigene Stadt oder Region hin zu checken. (8 von 10 Punkten)

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CAVA - Crashing

Diverse – Wolf Biermann Re:Imagined - Lieder für jetzt

Der Liedermacher Wolf Biermann wird geehrt – zurecht und wieder einmal, diesmal mit einem Coveralbum, auf dem aktuelle Musiker:innen seine Songs neu interpretieren. Der mit vielen Preisen Geadelte durfte in der DDR nicht spielen und nicht veröffentlichen – seine Musik musste in den Westen geschmuggelt werden, an der Stasi vorbei – bis er bekanntermaßen ausgebürgert worden ist. Heute blicken wir durch die Songs zurück und entdecken – neben der Vergangenheit – auch viel Gegenwart. 

Die Interpretationen kommen aus den unterschiedlichsten Jahrgängen. Rapperin Haiyti ist vertreten mit einem für sie typischen düsteren Club-Hit, Ina Müller mit einem traurig-tröstlichen Chanson, Deutschraplegende Torch fast schon eher getragen Spoken-Word-artig. Außerdem sind mit dabei Bonaparte, Balbina, Alligatoah, Wolfgang Niedecken – unter anderem. Die Idee dazu soll Pamela Biermann gehabt haben, Wolf Biermanns Ehefrau. Umgesetzt hat sie die Idee gemeinsam mit Johann Scheerer, dem Produzenten und Mitbegründer des Clouds Hill Labels. Er hält die Rechte an rund 300 Liedern von Biermann.

Es steht natürlich die Schwierigkeit im Raum, ein bedeutendes Werk umzugestalten, deren Schöpfer noch lebt. Mir ist das ab und an etwas arg theatralisch geraten und eben nicht so unperfekt-perfekt, wie die Lieder einmal klangen – auch wenn das natürlich den damaligen Umständen geschuldet ist. Berührend ist dieses Album, weil die Texte von Biermann deutsch-deutsche Geschichte einfangen. Und weil die Neuaufnahmen nicht nur zeigen, dass sein Werk nicht in Vergessenheit geraten darf – sondern auch, dass in der historischen Geschichte die privaten Geschichten genauso wenig vergessen werden dürfen. Im Rahmen des Projekts erklärt Wolf Biermann auf Instagram nochmal die Entstehung und den Hintergrund einzelner Songs. Empfehlenswert, allein schon, um ihm beim Philosophieren und Denken zuzuhören. (7 von 10 Punkten)

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Lied vom donnernden Leben

ST. VINCENT – Todos Nacen Gritando

Im April dieses Jahres hat St. Vincent ihr von der Kritik gelobtes Album „All Born Screaming“ rausgebracht. Jetzt legt sie eine Neuaufnahme nach – auf Spanisch. Ihre südamerikanischen Fans sollen sie dazu inspiriert haben. „Wenn die in einer Fremdsprache singen können, wieso nicht auch ich,“ hat sich Annie Clark gefragt. Herausfordernd sei das gewesen – was man sich gut vorstellen kann: Texte übersetzen und singen, und die Rhythmen anpassen und auf die mitschwingenden Bedeutungen achten. Geholfen habe ihr dabei ihr Freund Alan Del Rio Ortiz, der auch als Regisseur von Musikvideos bekannt ist.

Ich konnte vorab nur die Singles hören und bin noch nicht davon überzeugt, dass das ein Album hätte sein müssen. Ich verstehe und spreche spanisch nicht. In Internetforen habe ich aber schon einige kritische Töne von Spanisch-Sprechenden gelesen. In einem Interview hat St. Vincent übrigens betont, dass sie nicht perfekt spricht und betont. Der Vogue sagte sie, ihre Hoffnung sei, wenigstens so gut zu klingen wie Nena, auf ihrem Song „99 Red Balloons“ – der englischen Variante von 99 Luftballons, die Nena selbst eingesungen hat. Was für eine charmante Referenz!

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St. Vincent - Todos Nacen Gritando (Official Lyric Video)

WARMDUSCHER – Too Cold To Hold

Gegründet wurden Warmduscher aus Mitgliedern der Band Fat White Family, mit viel DIY-Attitüde. Außerdem sind Kinder von den berühmten britischen Bands Pulp und Slade bei Warmduscher dabei. Und das war es noch lange nicht mit dem Name-Dropping. Auf dem neuen Album „Too Cold To Hold“ hören wir unter anderem Lianne La Ha vas, sonst bekannt für geerdete Folk und Soul Songs. Außerdem tritt im Intro direkt Irvine Welsh auf, Autor von „Trainspotting“ und so etwas wie menschgewordenes Kultur gut. Wie britisch kann ein Album sein? Die Band Warmduscher war ohnehin schon schwer zu fassen, über die Einsortierung als „Post-Punker“ hinaus. Mit ihrem fünften Studioalbum wird’s jetzt schönerweise noch komplizierter: Afrobeats, Hiphop-Beat-Anleihen, Disco-, Punk-, Soulelemente. Dieses Album ist das erste, das aus der Band heraus produziert worden ist, vom Bassisten Ben Romans Hopcraft. „Too Cold To Hold“ ist ein eklektisches Album, dessen innere Logik sich mir erst nach einer Weile erschlossen hat. Ich glaube: Es gibt keine. Die Logik ist das Chaos. Und damit fahren die Sechs ganz schön gut. (8 von 10 Punkten)

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Warmduscher - Midnight Dipper

FAZERDAZE – Soft Power

Die Neuseeländerin Fazerdaze hat – als sie bekannt wurde – folgendes Image für ihre Musik gehabt: Girl in bedroom on guitar. Junge Frau in ihrem Schlafzimmer mit Gitarre. Der Sound ihres neuen Albums gehört auf etwas größere Bühnen. Seelig-beschwingt ist das neue Album von Fazerdaze die meiste Zeit über. Auch wenn hier nicht immer die Sonne scheint, dominiert bei aller Nachdenklichkeit versöhnlicher Sound. Das ist vielleicht die titelgebende „Soft Power“ von Fazerdaze – bei sich sein, ausgesöhnt sein. Ihre eigenen Widersprüche kennt sie nur allzu gut: Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Rampenlicht und der Sehnsucht, einfach zu Hause zu sein, eigenen Routinen nachzugehen. Amelia Murray, wie sie bürgerlich heißt, hat das Album selbst produziert. Auf „Soft Power“ sind viele schimmernde Indie-Pop-Perlen. Zwischen den von früheren Veröffentlichungen nach wie vor vorhandenen Shoegaze-Elementen und sich wiederholenden Lyrics ist es dann aber auch ein schmaler Grat zwischen verträumten und verschlafenen Songs. (6 von 10 Punkten)

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Fazerdaze - Soft Power (Full Album)

MICHAEL KIWANUKA – Small Changes

Von der Kritik gefeiert und mit einem Mercury Prize ausgezeichnet, bleibt Michael Kiwanuka seinem Sound grundsätzlich treu, die Liebe zum Soul der 60er und 70er bleibt. Produziert haben „Small Changes“ der legendäre Danger Mouse und Inflo, von dem zurecht gehypten souligen Kollektiv SAULT. Mitgemischt hat auch Jimmy Jam. Der etwa den Sound von Janet Jackson mitgeprägt hat. Neu erfunden hat sich Michael Kiwanuka hier nun wirklich nicht. Es ist aber meine bisher liebste Platte von ihm. Auf seinen vorherigen Alben hätte er sich beweisen wollen, sagt Michael Kiwanuka, auf diesem neuen Album wäre er mehr bei sich. Das Album „Small Changes“ ist nur scheinbar unauffällig. Dabei bringt Kiwanuka das Simple zum Strahlen. Stimme und Lyrics und Melodien stehen im Mittelpunkt. Es ist ein selbstsicheres Album. Kiwanuka besingt immer wieder das Verlassen, das Gehen – das schlechte Gewissen, das er dabei hat – aber auch, wie er einen Teil von sich selbst gehen lassen muss. Zwischen seinem letztem Album und dem neuen liegen nicht nur fünf Jahre, sondern auch die Geburten seiner beiden Kinder. Wenn man das Vaterwerden beim Hören im Hinterkopf behält, stellt man sich diese titelgebenden „Small Changes“ ganz anders vor. (9 von 10 Punkten)

Die Veröffentlichung des Albums wurde um eine Woche verschoben. Es erscheint nun am 22. November.

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The Rest Of Me

GANAVYA – Daughter of a Temple

Auch Ganavya ist mit SAULT verbandelt. Sie ist Anfang des Jahres mit dem Kollektiv aufgetreten – ein umjubelter Gig. Gearbeitet hatte Ganavya auch mit dem kürzlich verstorbenen Quincy Jones. Geboren wurde sie in New York, aufgewachsen ist sie in Indien. Und hat mehrere Studienabschlüsse, etwa von Harvard. Dabei hat sie keine klassische Schulbildung. Sie fragen sich gerade, wieso diese Frau nicht längst irre bekannt ist? Ich mich auch. Jede neue Information über Ganavya macht sie noch spannender. Für ihr Album muss man schon ein bisschen Geduld mitbringen. Denn nicht alle Songs haben Strukturen, die sich schnell erschließen lassen. Spiritueller Jazz – so kann man die Musik von Ganavya vielleicht am besten beschrieben. Auf einem früheren Album hat sie Jazz-Standards in ihre Muttersprache übersetzt, in Tamil. Ihr neues Album „Daughter of a Temple“ übersetzt nicht mehr „nur“, sondern fusioniert: Jazz mit spiritueller südostasiatischer Musik. Zu den Albumaufnahmen hat sie über 30 Künstler:innen eingeladen. Familienmitglieder waren auch dabei, auf einem Song sind wohl auch ihre Eltern zu hören. Ihre Mutter soll sogar für alle gekocht haben. Eher ein Happening als klassische Albumaufnahme. Gemastert hat das Ergebnis anschließend Nils Frahm –jedermanns mit Elektro-Kenntnis Lieblingspianist. (7 von 10 Punkten)

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ganavya - Prema Muditha (feat. Shabaka Hutchings) (Official Audio)

FUNNY VAN DANNEN – Songs to go

Der Liedermacher Vanny van Dannen veröffentlicht hiermit sein letztes Album. Das kommt natürlich mit einem Wortwitz im Titel: „Songs to go“ heißt es. So wie „Kaffee to go“. Ich mache es kurz: Es ist einer van Dannen! Mit ihm geht ein Liedermacher, der manchmal klar zeigt, wo er steht, aber ungern immer alles vorkaut. Der um die Ecke denkt. Ein mitfühlender Beobachter. Weil es – wie so oft – ein Livealbum ist, hören wir am Ende jedes Songs etwas Applaus. Vielleicht applaudieren Sie ihm ja auch gleich mit. (7 von 10 Punkten)

Die Neuerscheinungen der Woche könnt ihr 7 Tage nachhören: HIER ENTLANG!