Neuerscheinungen der Woche Neue Alben von u. a. John Glacier, Horsegirl und Tocotronic
Unser wöchentlicher Neuheiten-Check in den Late Night Sounds mit Horsegirl, John Glacier, Tocotronic, Marshall Allen, Tua, Andreas Dorau, Zement, Bartees Strange, Mereba und They.
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Horsegirl – Phonetics On and On
Horsegirl lieben den Alternative Rock der 90's. Ihre Idole heißen Pavement oder The Breeders. Mit beiden waren sie mittlerweile auch schon auf Tour. Und das, obwohl sie gerade erst Anfang 20 sind. Horsegirl, das sind Nora Cheng, Penelope Lowenstein und Gigi Reece aus Chicago. Als Teenager haben sie sich auf einem Konzert kennengelernt. Übrigens nach wie vor eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen: zusammen auf Rock-Konzerte gehen und über Musik diskutieren. Als sie 17 bzw. 18 Jahre alt sind, nimmt Matador die drei Freundinnen unter Vertrag. 2022 erscheint ihr noisy Debütalbum "Versions of Modern Performance", das u.a. Kim Gordon zum Fan macht. Mittlerweile wohnen Horsegirl in New York und studieren dort. Aber für ihr zweites Album sind sie nach Chicago zurückgekehrt, haben im Studio von Wilco aufgenommen. Das sei typisch Chicago, sagen Horsegirl, hier kümmern sich die Älteren in der Szene um die Jüngeren. Ihr neues Album "Phonetics On and On" klingt wesentlich minimalistischer als der Vorgänger. Denn was die Phonetik mit der Sprache macht, das wollen Horsegirl hier auch mit der Musik machen. Sie nämlich auf ihre Grundbausteine reduzieren, sozusagen entschlacken. Um sie dann weiterzuentwickeln, neue Sounds zu entdecken, mit Krautrock und Postpunk-Elementen zu spielen. Ein Ansatz, der den spärlich instrumentierten Gitarren-Pop von Horsegirl unglaublich lässig und fast schwerelos klingen lässt. Die Drei zeigen hier eine Experimentierfreude und Coolness, um die man sie nur beneiden kann. Und die mich bei dem ein oder anderen Song sogar an die großartigen Young Marble Giants denken lässt. (8 von 10 Punkten)
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Horsegirl - "Frontrunner" (Official Music Video)
John Glacier – Like a ribbon
Dem britischen Magazin Mixmag hat die britische Rapperin, Dichterin und Produzentin John Glacier erzählt, ihr Debütalbum "Like a ribbon" sei eine Reise durch die vier Jahreszeiten. Darauf wär ich jetzt, ehrlich gesagt, nicht gekommen. Ich hätte eher eine Reise durch die Nacht vermutet. Schließlich bettet John Glacier ihre hypnotischen, sehr poetischen Lyrics auf dunkle Electronica-Experimente, Broken Beats bzw. düstere Lo-Fi-Gitarren. Glacier ist in einer sehr traditionellen, jamaikanischen Familie im Londoner Stadtteil Hackney aufgewachsen. In ihrer Jugend hat sie Grime, Reggae- und Dancehall entdeckt. 2021 ist bereits ihr vielgelobtes "Shiloh: Lost for words"- Minialbum erschienen. Dem jetzt "Like a ribbon" folgt. Ein Album, auf dem Glacier weniger rappt, eher eine fast meditative Spoken-Word-Performance abliefert. Dabei immer etwas gelangweilt, ja fast unbeteiligt wirkt. So cool, dass sie auch als die Schwester von Slowthai durchgehen könnte. Immerhin teilen sich die beiden Produzent Kwes Darko. Britischer Hip Hop ist ja ein weites Feld. Aber so wie Tricky vor 30 Jahren mit seinem Debüt "Maxinquaye" dem Genre eine aufregende, neue Note verpasst hat, so schafft das 2025 auch John Glacier. (8,2 von 10 Punkten)
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John Glacier - Home
Tocotronic – Golden Years
Mit "Golden Years" veröffentlichen Tocotronic ihr 14. Album in 30 Jahren. Drei Jahrzehnte im Zeichen des deutschsprachigen Indie-Rocks, der Tocotronic zweifelsohne einiges zu verdanken hat. Nach den Aufnahmen zum neuen Album hat sich Gitarrist Rick McPhail für unbestimmte Zeit zurückgezogen. Damit kehren Tocotronic zur ursprünglichen Trio-Besetzung zurück. "Golden years" ist wieder mal ein sehr doppelsinniges Album geworden, voller Twists und Brechungen. Mal passt der euphorische Sound nicht zum kritischen Text ("Bye Bye Berlin"). Mal wird aus einem "weine nicht, ich wart auf dich, du kannst mir fest vertrauen" ein "fast vertrauen" ("Der Tod ist nur ein Traum"). Ein kleiner Buchstabe, eine minimale Verrückung, macht diesen Song, den Trost, den er spenden will, wieder zunichte. Aber genau diese Twists machen das Album so spannend. Genauso wie der Titel "Golden Years" viel Deutungsspielraum bietet. Zum einen ist er durchaus optimistisch und positiv lesbar – als das Licht, die Hoffnung, am Ende des Tunnels. Gleichzeitig kann er natürlich aber auch sehr nachdenklich machen. Spielen Tocotronic hier vielleicht auf die goldenen 20er Jahre an, die Zeit der Weimarer Republik, in der die Demokratie von den Nationalsozialisten abrupt beendet wurde? Oder meinen sie vielleicht sogar ihre eigenen "Golden Years", wollen uns Tocotronic damit auf ihre bevorstehende Pop-Rente einstimmen? In dem sehr schönen Tocotronic-Playback von ZF-Kollege Wolfram Hanke gibt's darauf folgende Antwort: der Titel "Golden Years" hat mit alldem nichts zu tun, auch nicht mit David Bowie, stattdessen hat ein Buch, ein Reader über queere Subkultur und Avantgarde der 60er und 70er Jahre Dirk von Lowtzow dazu inspiriert. Und über den gleichnamigen countrysken Titelsong "Golden Years" sagt der Tocotronic-Sänger:
"Dieses musikalische Mikrolebensdrama in drei Akten ist das vielleicht persönlichste Lied auf dem Album. Denn es verhandelt tatsächlich stattgefundene Episoden aus meinem Tourleben."
(Dirk von Lowtzow)
Der Song "Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal" hat, laut Dirk von Lowtzow, den surrealistischsten Text. Musikalisch setzt er dagegen auf Altbewährtes, nämlich krachigen Postpunk im typischen Tocotronic-Shuffle-Modus, der entsteht, wenn Bass, Schlagzeug und Gitarre gegeneinander anspielen. Ein Abgesang auf männlich gelesene Rockmusik, vielleicht sogar toxische Männlichkeit im Rock, so von Lowtzow. "Bye Bye Berlin" sei wiederum ein Abgesang auf die Stadt, die vor wenigen Jahren noch so etwas wie eine räumliche Utopie war. Aktualität habe dieser Song durch die angekündigten Kulturkürzungen gewonnen, die befürchten lassen, dass diese Stadt, die doch ganz wesentlich von ihrer Kultur lebt, sich abschaffen könnte. Gesellschaftskritik, Protest-Pop ("Denn sie wissen, was sie tun") und sehr persönliche, ja berührende Momente treffen hier aufeinander. Momente, in denen vom Unterwegssein, vom Heimweh, von der Liebe die Rede ist, aber auch vom Tod. Und die trotz der finsteren Zeiten tröstlich, ja hoffnungsvoll klingen. Ein klassisches, fast nostalgisches Tocotronic-Album mit dem ersten Maultrommel-Einsatz der Bandgeschichte ("Niedrig"). (8,1 von 10 Punkten)
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Tocotronic - Bye Bye Berlin (Official Video)
Marshall Allen – New Dawn
Wer sich gerade noch dachte, ups, 30 Jahre Tocotronic, wie die Zeit vergeht, dem sei gesagt: Zeit und Raum spielen in der Musik nur bedingt eine Rolle. Das gilt ganz besonders für den Output des intergalaktischen Sun Ra Arkestras. Dessen Leiter, der Altsaxophonist Marshall Allen veröffentlicht morgen – im Alter von 100 Jahren – sein Solo-Debüt "New dawn". Auf der gleichnamigen Single ist die wunderbare Neneh Cherry zu hören. Marshall Allen begegnete dem exzentrischen Genie Sun Ra 1958. Ab da gehörte er zu den Jüngern Sun Ras, war Teil des Sun-Ra-Arkestras. Jenem Space-Jazz-Kollektiv, das im Namen seines kosmischen Meisters Swing, Jazz und Avantgarde zu einem Manifest des Afrofuturismus machte. 1995, kurz nach dem Tod Sun Ras, übernahm Marshall Allen die Leitung und führte dessen Erbe fort – bis heute. Allen lebt auch heute noch im Sun-Ra-Arkestra-Zentrum, einem bescheidenen Reihenhaus in Philadelphia, das vor kurzem zum Kulturdenkmal erklärt wurde. Dort wurde und wird immer noch Tag und Nacht geübt, um jederzeit bereit zu sein. Sun Ra hatte die Parole ausgegeben: "One day it will happen ... It could be happening now – that a voice from another dimension will speak to earth. You might as well practice and be prepared for it". Jetzt ist es also passiert … und Marshall Allen hat, mit der Erlaubnis des Sonnengottes höchstpersönlich, sein Solo-Debüt veröffentlicht. Unterstützt von etlichen Bandmitgliedern, Neneh Cherry und einer Menge Streichern. Einzelne Tracks sind in anderen Versionen auch schon auf Arkestra-Alben zu hören. Hier haben die Tracks aber insgesamt eher einen ruhigen, zeitlos dahinschwebenden Charakter ("African sunset" goes Burt Bacharach). Besonders toll: das dubbige, das Raum-Zeit-Kontinuum durchbrechende letzte Stück auf dem Album, der Sun Ra-Klassiker "Angels and demons at play". (8,5 von 10 Punkten)
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Marshall Allen feat. Neneh Cherry - New Dawn (Official Music Video)
Mereba – The Breeze Grew a Fire
Wer hier eine rappende Mereba erwartet, jene Mereba, die in Atlanta ein Teil des HipHop-Kollektivs Spillage Village ist, der wird enttäuscht. "The Breeze Grew a Fire" ist sehr sanft und angenehm dahinfließender R'n'B mit Folk-Storytelling, fast ein Wiegenlied von einem Album, mit einem sehr entschleunigten Sound. Mereba macht dafür u.a. die Geburt ihres Sohnes verantwortlich. Deshalb habe sie jetzt mehr Selbstbewusstsein – aber auch weniger Zeit. Details würden aus Zeitgründen nicht mehr diskutiert, stattdessen verlässt sie sich jetzt mehr auf ihr Bauchgefühl. Diese neue Freiheit hört man dem Album an, so leichtfüßig und gleichzeitig instinktiv klingt es. Dass mich Mereba trotzdem nicht ganz überzeugen kann, liegt vielleicht an meiner mangelnden Spiritualität. (7,9 von 10 Punkten)
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Counterfeit
They – Love.Jones
They, das sind Andrew "Drew Love" Neely und Dante Jones aus Los Angeles. Ihr Albumtitel heißt dementsprechend dann auch "Love.Jones" – bezieht sich aber angeblich auf das Comedy-Drama "Love Jones" aus dem Jahr 1997. So romantisch wie der Referenz-Film ist dann auch dieses Album. Astreiner R'n'B wie er auch in den 90's hätte erscheinen können, super smooth und makellos. Und perfekt für die gerade besungene "Rotation", die Heavy-Rotation großer amerikanischer R'n'B-Sender. (7,2 von 10 Punkten)
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THEY. - Straight Up (Official Audio)
Bartees Strange – Horror
Wenn ich ehrlich bin, ist mir Bartees Strange super sympathisch. Der Musiker aus Baltimore hat früher in einer Hardcore-Band gespielt und At the drive-In gehört. Heute mag er Burial und The National. Außerdem ist er mit den tollen Indie-Musikerinnen Phoebe Bridgers, Lucy Dacus und Courtney Barnett befreundet. Dazu hat er eine sagenhaft wandlungsfähige und berührende Stimme und ist totaler Eklektiker. Sprich, er schreckt vor keinem Genre zurück, experimentiert sehr gern und hat auf seinem neuen, sehr abwechslungsreichen Album versucht all seine Lieblingseinflüsse unterzubringen. Von altem Funk, House, Rap, Rock bis zu Fleetwood Mac. Auch dass er sich auf seiner neuen Platte seinen Ängsten widmet und deshalb die Platte "Horror" nennt, ist völlig legitim, vor allem als queerer, schwarzer Musiker, der in einer ländlichen Gegend irgendwo in Oklahoma aufgewachsen ist. Womit ich allerdings tatsächlich ein Problem habe, ist die stadionkompatible Produktion von Jack Antonoff – Stamm-Produzent von Taylor Swift und Lana del Rey. Antonoff hat ihm einen Sound verpasst, der Bartees Strange sicher seinem Traum vom Grammy näherbringt. Mir war der frühe Bartees Strange allerdings der liebere. (7,3 von 10 Punkten)
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Hit It Quit It
Andreas Dorau – Wien
Andreas Dorau veröffentlicht eine Platte über Wien. Warum? Nun "Wien ist die Stadt mit dem wahrscheinlich schönsten Namen. Allein der Klang ist schon Musik", findet Andreas Dorau. Und außerdem macht der Hamburger bekanntlich nichts lieber als Platten herauszubringen. Deshalb sind es diesmal auch gleich zwei. Wobei die Bonusplatte weitere elf mehr oder weniger unwiderstehliche Dorau-Songs über Wien enthält, Songs, die in Sachen skurril-schrägem Humor dem vermeintlichen "Wien"-Hauptalbum in nichts nachstehen. Produziert hat wieder Zwanie Jonson – Beats, die manchmal so stumpf und monoton daherkommen, dass ich mich regelrecht durch kämpfen muss durch die 24 Songs. Und dabei dann doch immer wieder auf herrliche Dada-Pop-Perlen stoße. Songs wie "Tourist", Verbautes Haus", "Regen in Wien", "Rauchen in Wien" oder das fabelhafte "Lass uns spazieren gehen", letztere beide mit der großartigen Stefanie Schrank. Etwas weniger wär hier definitiv mehr gewesen. Aber wer weiß, Andreas Dorau ist ja alles zuzutrauen, vielleicht war "Wien" nur der Anfang und er besingt bald weitere europäische Hauptstädte. So wie Sufjan Stevens es sich zum Ziel gemacht hatte, alle US-amerikanischen Bundesstaaten zu besingen. (7,8 von 10 Punkten)
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Andreas Dorau - 45 Lux (Official Video)
Tua – F60.8
Wenn Tua keine Solo-Alben veröffentlicht, ist er Rapper bei den Orsons. Dafür bleibt ihm aber gerade nur wenig Zeit – erst im vergangenen Jahr ist sein Album "Eden" erschienen. Dem folgt jetzt "F60.8". Der Titel ist keine Temperaturangabe, steht nicht für Fahrenheit, sondern ist der Diagnoseschlüssel für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Was hier keinesfalls autobiographisch verstanden werden soll, zumindest wird das in der Albuminfo immer wieder betont, sondern hier steht eine fiktive Person, ein lyrisches Ich, ein männlicher, narzisstischer Prototyp, im Mittelpunkt. Durch die elf Songs zieht sich dementsprechend dann auch eine Spur der Verwüstung. Von Selbstüberschätzung, krankhaften Besitzansprüchen, Größen- bzw. Drogenwahn, Lovebombing, Gefühlskälte bis zur würdelosen Trennung. Die Lyrics könnten düsterer, ja kaputter nicht sein. Musikalisch klingt das Album allerdings relativ euphorisch. Tua unterlegt seine abgründigen Lyrics mit happy Softcore, sonnigem House und elegantem Drum'n'Bass. Das mag vielleicht eine interessante Brechung sein, ändert aber nichts an der Tatsache, dass das Album dadurch relativ glatt und beliebig daherkommt. (6,5 von 10 Punkten)
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TUA - Kaputt (Official Video)
Zement – Passagen
Das Neo-Krautrock-Duo aus Fürth bzw. Lohr am Main hat hier sein Soundspektrum gewaltig erweitert. So ist ihr viertes Album "Passagen" das erste mit Jazz-Saxophon und Gesang. Und auch das erste auf dem Christian Büdel und Philipp Hager ihr Faible für den New Yorker Indie-Disco-Sound der Nuller Jahre, sprich Acts wie LCD Soundsystem mit einfließen lassen. Am deutlichsten hört man das auf "Station to station", einem regelrechten Indie-Disco-Banger mit erstaunlichem Pop-Appeal. "All I wanna do is getting from here to another station" heißt es da. Offensichtlich befinden sich Zement im Aufbruch, unterwegs auf der Suche nach neuen aufregenden Sounds, vielleicht sogar nach einer neuen Identität. Nicht umsonst haben sie sich für den Albumtitel von dem Philosophen Walter Benjamin und seinem "Passagen"-Werk inspirieren lassen. Super spannendes Album! Freu mich auf die nächste Tour von Zement, die da hoffentlich bald kommen wird. (8 von 10 Punkten)
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ZEMENT – BACK TO MY LOOPING CAVE (Official Video)
Anm. der Red: Wie immer gilt: die digitale Veröffentlichung kommt meist zuerst. Seht es euren Plattenläden nach, wenn sie die LP/CD noch nicht vorrätig haben.