Greentea Peng – Tell Dem It's Sunny

Mit ihrem Debüt war sie schon "Album Der Woche" bei uns. Vier Jahre nach "Man-Made" folgt nun der Zweitling der afrikanisch-arabisch-stämmigen Sängerin. Aria Wells ist 30 und gilt als neue Stimme Londons – zwischen Pop, R&B, Reggae und Soul. Ihren Künstlernamen Greentea Peng hat sie von der Teesorte "Green Tea Seng", den sie auf Reisen in Südamerika entdeckte. "Seng" ersetzte sie durch "Peng" – meint Umgangssprachlich im UK: toll. Mit der Musik begann sie am Ende der Reise in Mexiko, wo sie eine Band kennenlernte. Nach ihrer Rückkehr nach London begann Aira ihre Solo-Karriere. Und erinnert an Neneh Cherry in ihren jungen Tagen. Verarbeitete sie auf dem Debüt den Tod des Vaters, der ihr die Musik näher brachte, begleiten wir sie hier nach Bali bzw zu neuen Erkenntnissen: wir müssen Veränderungen akzeptieren – manchmal auch die Widersprüchlichkeiten des Lebens. Der Albumtitel ist sowohl optimistisch als auch sarkastisch gemeint. Der Frühling kann kommen. (8,3 von 10 Punkten)

Acht Eimer Hühnerherzen – Lieder

Das vierte Album des Berliner Folk-Punk-Trios – sie nennen es Nylon-Punk, sprich mit akustischen Gitarren(Nylon)saiten gespielter Punk. Apocalypse Vega singt und spielt Gitarre, Benedikt Gramm trommelt und Johnny Bottrop ist an der Gitarre. Johnny kennt man auch von der inzwischen aufgelösten Kreuzberger Band Terrorgruppe (1993-2022). AEH beschreiben ihren Sound als Mischung aus Powerviolence-Folk, Kakaphonie und Bindungsangst. Oder Wandergitarren-Punk mit Fuzz und Driver. Ihr größter Hit heisst "Mittelmass" – vom 2018er Debüt – hat 4 Millionen Plays bei Spotify. Das Vorgänger-Album von "Lieder" schaffte es 2022 in die deutschen Album Top20 ("Musik"). Sie verweigern sich also schon bei den Albumtiteln: das Debüt hatte keinen Titel. Es folgten "Album", "Musik" und nun "Lieder". AEH sagen Nein zu Konzepten und ziehen damit die großen A´s an: "Alleinerziehende, Alkoholiker und Allergiker". Auch auf der neuen Platte legen sie musikalisch meist voller Energie los, aber textlich hören wir ihre Zweifel an Allem heraus. Ihre formidable Dynamik ist also in Wahrheit gebremste Zuversicht. Und meist ist alles in 2 Minuten 30 gesagt. Oder gesagt. Wie "Ode" – eine Verbeugung vor Frauen, die Apocalypse Vega toll findet. (8,4 von 10 Punkten)

Güner Künier – Yaramaz

Im Türkischen bedeutet der Albumtitel "unartig" und "ungezogen" – aber auch "Früchtchen". Was freche Kinder zu hören bekommen. Die Berlinerin meint es aber musikalisch: es sei ihr "Coming-Of-Age-Album – mit Mitteln des Minimal Synth Wave / Post-Punk / Shoegaze", sagt Güner. Die 1990 in Izmir und mit drei Jahren nach Flensburg übersiedelte Musikerin hat es zum Studium nach Berlin gezogen. Geprägt haben sie Sonic Youth und Hole – ebenso wie Cem Karaca oder Barış Manço. Nach Wirtschaftsingenieurwesen an der Uni kümmert sie sich nun um ihre Sounds – 2020 kam das Debüt, 2021 eine EP. Auf dem zweiten Album singt sie auch wieder Türkisch und Englisch – Letzteres klingt dann schwer nach stürmischem Early-80s-NoWave. Ab Ende April ist sie damit auf Tour. Ua im Mai in München und Augsburg. Beim Puch Open Air 2023 konnten wir uns (im Süden) von ihrer wilden Rohheit überzeugen. Man höre auch die Songs vom Debüt – wie "Dön Bak" oder "Elimi Tut Dedim Sana" ("Ich sagte, nimm meine Hand."). (7,9 von 10 Punkten)

Japanese Breakfast – For Melancholy Brunettes

Michelle Zauner und das erste Album, das sie richtig mit Band in einem richtigen Studio mit richtigem Produzenten aufnahm: mit Blake Mills – bekannt für seine Arbeiten mit Bob Dylan oder Fiona Apple. Nach ihrem Memoiren-Buch "Crying In H Mart" – das auf Deutsch "Tränen Im Asia-Markt" heißt, das zuhause in den USA ein Bestseller war, kehrt die in Südkorea geborene Künstlerin mit dem deutschen Familiennamen also wieder zurück zum Schreiben für Musik. Klang der Grammy-nominierte Vorgänger ("Jubilee") extrovertiert, kommen Japanese Breakfast nun introviert-intim daher. Es geht um – wie die Viel-Leserin Michelle Zauner sagt – "die Gefahren des Begehrens": die Figuren der Songs durchleben Versuchung, Übertretung und Vergeltung. Von Ikarus, der der Sonne zu Nahe kommt, über Thomas Manns "Zauberberg"-Roman bis zum kalifornischen Laurel-Canyon-Folk-Ära der 60/70s. Damit ist sie ihren Vorbildern Fleetwood Mac, Built To Spill und Billy Joel nahe. Einerseits. Andererseits ist "For Melancholy Brunettes (& sad women)" auch ein klasse Indie-Folk-Pop-Album von und für Heute. Und so gar nicht von Gestern. Und mit Jeff Bridges ("The Big Lebowski") ist ein Hochkaräter an Bord – als Duettpartner in "Men In Bars". Darauf einen White Russian. (8,0 von 10 Punkten)

Malakoff Kowalski – Songs With Words

Ein Konzept-Album des deutsch-amerikanisch-persischen Musikers: Er singt Gedichte des US-Beatnik-Dichters Allen Ginsberg – zu Klavier-Werken bzw Miniaturen von Chopin, Schumann, Ravel, Grieg, Debussy, Fauré ua. Eingespielt als Quartett – mit Igor Levit, Chilly Gonzales und Johanna Summer (die Plauener Pianisten ist nicht mit mehr verwandt) – allesamt auch beste FreundInnen von ihm. "Songs With Words" ist eine Anspielung an "Lieder Ohne Worte" von Mendelssohn. Für Malakoff Kowalski ist "neuartige Musik, die weder Klassik, noch Jazz, noch Pop ist". Über fünf Jahre arbeitete der Berliner an der Platte. Die Texte Ginsbergs wurden fast unverändert für den leisen, introspektiven Gesang übernommen: "eine zeitlose, verletzliche, dem Selbst zugewandte Lyrik". Sein Label vergleicht das Ergebnis mit einem Song-Zyklus, der "europäische Klaviertradition mit der Dichtung der Beat-Generation" zusammenbringt. (7,8 von 10 Punkten)

Die Heiterkeit – Schwarze Magie

Nach sechs Jahren Bandpause hat Stella Sommer wieder ein Band-Album fertig. Im letzten Jahr hatte sie mit Drangsal ihr Debüt als Die Mausis veröffentlicht. Und dann macht Stella auch noch Solo-Platten, dann singt sie Englisch. Bei Die Heiterkeit singt sie Deutsch. Und hat wieder ein fesselnd-düsteres Werk vorgelegt. Nur "Santa Ana" und der Titelsong swingen – im Uptempo. Auf der fünften Platte dürfen wir ihr eher bei einnehmenden und ruhigen, aber federleicht eingespielten Stücken lauschen - wie "Die Welt War Jung, Die Ängste Alt", "Wie Man Ein Gespenst Heilt" oder 2Wenn Etwas Schönes Stirbt (macht es kein Geräusch)". Stellas Stimme klingt dunkel, ja mystisch - und erfahren: als trage sie das Wissen mehrerer Generationen in sich. Kein Wunder: die gebürtige Husumerin ist Fan des "Great American Songbooks" – sprich des klassischen Songwritings. So wurde ein Zitat aus einer Elvis-Rede der Start für "Alles, Was Ich Je Geträumt Hab (wurde wahr)". Schönster Satz: "Jede Seite war ein Halleluja, und jeder Satz sein eigener Abgrund." Eine zeitlose, deutsch-sprachige Folk-Perle, Schicksals-Pop in Vollendung. Fernziel: Ich wünsche mir ein Duett mit Lana Del Rey. Stellas Credo: gute Musik ist immer traurig und heiter, schwer und leicht zugleich. Live sind Die Heiterkeit im April und Mai zu sehen. (8,1 von 10 Punkten)

Jeffrey Lewis & The Voltage – The Even More Freewheelin´ Jeffrey Lewis

Mit den Moldy Peaches (Kimya Dawson und Adam Green) war der New Yorker DER Anti-Folk-Pionier - dem neuen, punkig-respektlosen Folk zum Millennium. Neben unzähligen Nebenprojekten, die oft nur auf Cassette oder digital erscheinen, nun wieder ein reguläres Solo-Album. Und gleich im ersten Lied singt er, dass das Zeichnen gerade keinen Spass macht: Lewis ist auch begnadeter Comic-Zeichner. Sein Rat: "Do What Comes Natural". Dann wieder zurück an die Akustische – oder an die Elektrische – mit der Band. Mit seiner Band "The Voltage" lässt er es gut rumpeln: "Just Fun", "Sometimes Life Hits You" und "Relaxation" bleiben sofort hängen. Bei den akustischen Balladen wird er wieder zum Vieltexter – wünscht Ringo Starr, den Stones und den Violent Femmes alles Gute ("Tylenol PM"), singt von einem "Movie Date" und baut mittendrin einen Live-Song ein. Schade, dass seine Single zu den US-Wahlen nicht gezündet hat: "Harris & Walz (Let´s Vote Them In)" – inklusive der B-Seite: "If You´re Ever Scared Of Republican Rednecks". Er hätte dafür aber auch viel Kritik einstecken müssen, sagte er im Zündfunk-Interview. Seinen Aktivismus findet er als "normales, liberales, demokratisches Handeln". Insgesamt seien aber nur fünf Prozent seiner Kunst politisch. Mit dem neuen Album mit dem Dylan-Bezug kommt er auch auf Europa-Tour – in Deutschland spielt er ab Ende April in Hamburg, Berlin, Stuttgart, Köln und Haldern. Solange es solche US-Musiker gibt, besteht Hoffnung. (8,2 von 10 Punkten)

Lonnie Holley – Tonky

Beim vorherigen Album des 75-jährigen waren Stars wie Bon Iver und Michael Stipe mit von der Partie. Auf der Gästeliste diesmal: Alabaster DePlume, Angel Bat Dawid, Mary Lattimore, Saul Williams, Isaac Brock (Modest Mouse) ... Lonnie Holley ist nicht nur Musiker, zu dem Jüngere in den USA aufblicken. Er ist auch Outsider-Artist und wird als Civil Rights Avantgardist bezeichnet. Der US-Amerikaner wuchs bei verschiedenen Pflegeeltern, in Kinderheimen und auf der Straße auf. Er jobbte als Müllmann, sammelte Abfall und formte daraus Kunstwerke. Seit einiger Zeit ist Lonnie Holley auch in Musikstudios zuhause. Mit seinem Mix aus Jazz und Poetry, mit Improv und Soul dürfte er nun seinen Geheimtipp-Status hinter sich lassen. Und hoffentlich ein weltweites, kunst-interessiertes Publikum finden. Dabei klingt "Tonky" nicht artsy-fartsy, sondern nach Sophistaced Soul. "Tonky" ist der Spitzname, den Hollie als Kind bekommen hatte: weil er einen Teil seiner Kindheit in einem Honky Tonk verbrachte. Auf dem Album geht es um Wiedergeburt, Erneuerung und Hoffnung. Lonnie ist DER Special Interest Tip die Woche. (7,7 von 10 Punkten)

Annie & The Caldwells – Can't Lose My (Soul)

Irre Gospel-Geschichte: eine Familien-Band aus Mississippi, die drei Generationen umfasst. Aus gutem Grund: die gläubige Mama Annie, auch bekannt von den Staple Jr. Singers, wollte gemeinsam Musik machen, um ihre Kinder vor Schwierigkeiten zu bewahren. Sie spielten Hits nach: von Chaka Khan oder Bootsy Collins – sprich 80er-Disco-Funk. Das Debüt von Annie & The Caldwells hat lange gedauert, weil die Familien-Mitglieder noch nebenher jobben müssen: als Gabelstapler-Fahrer, Friseurin, Grundschullehrerin oder Kundenbetreuerin in einer Versicherung. Und nach den Vorab-Songs jubelt die Presse: "the family of faith", "a gospel masterpiece" oder „Annie wehrt die Bomben Satans ab". Dieses Lob bezieht sich auf einen Hit des Albums: "Wrong (You Dropped a Bomb)" – es enthält das Sample von "You Dropped A Bomb On Me" der Gap Band aus den 80ern. Für den Song hat eine US-Disco-Legende aus dem ehemaligen Studio 54 nach Jahren der Abstinenz wieder einen Remix abgeliefert: "Wrong (You Dropped a Bomb) - Nicky Siano Remix". Das Album erscheint bei Luaka Bop – der Plattenfirma von David Byrne (Talking Heads). Produziert hat Ahmed Gallab, bekannt als Sinkane. Die Gabriels und Hot Chip sind schon Fans. (7,6 von 10 Punkten)

Goya Gumbani – Warlord Of The Weejuns

Was eine sanfte, stilvolle Überraschung: der afro-amerikanische Sänger / Rapper mit einer Mischung aus Soul, Jazz & Spoken Word. Der Wahl-Londoner trat schon beim Pitchfork Festival und bei Boiler Room auf – hat selbst eine Radio-Show beim englischen NTS Radio. Der Titel ist eine Hommage an Miles Davis: "Warlord Of The Weejuns" hieß ein Artikel über den verstorbenen Trompeter. Goya zählt zu den Figuren der neuen UK-Jazz-Szene. So ist Joe Armon-Jones, Keyboarder des Ezra Collectiv, zu hören. "FireFly" ist für Goya "kosmischer R´n´B-Groove". Er singt es mit Fatima - auch Yaya Bey und Jaydonclover sind als Gäste neben ihn am Mikro. Inhaltlich geht es um das schwarze Erbe und um Selbstwert – wie in einem der Höhepunkte: "Mind, Body, Spirit." Zwischen den Songs HipHop-typische Snippets bzw Skits. Weejuns sind Pennyloafer auf Mokassin-Basis (Klassiker des US-Herrenschuh-Herstellers G.H. Bass – nicht nur Miles Davis, auch JFK, Grace Kelly, Paul Newman trugen sie). Speziell & zeitlos – wie der Sound. Talent! Man spricht seinen Namen wie man ihn schreibt: Goia Gumbani. (8,5 von 10 Punkten)

V.A. – Krautrock Eruption

Und immer wieder Krautrock – "der Flucht aus dem Nachkriegs-Deutschland". Wolfgang Seidel erzählt darin eine "alternative Geschichte des German Undergrounds der 60/70er". Seidel weiß, wovon er schreibt, er war Mitglied von Conrad Schnitzlers Band Eruption – Schnitzler eröffnet denn auch die Begleit-Compilation, die bei Bureau B (Tapete) erscheint, das Buch beim verlässlichen Ventil Verlag. Seidel hat viele unveröffentlichte Fotos der Krautrock-Ära aufgetan und erzählt aus persönlicher Sicht, wie es abging: bei Demos, Hausbesetzungen und natürlich in den Übungsräumen – etwa bei Cluster, Tangerine Dream oder Ash Ra Tempel in Berlin. Das Buch wagt auch die These, dass der Krautrock gar Leute wie Steve Reich und Philip Glass beeinflusst hat: die Pioniere der sog. Minimal Music (in den USA). Und liefert einen Index wichtiger Krautrock-LPs mit. Achtung: ist Englisch geschrieben (der internationale Markt!). Auf dem Sampler hören wir auch Faust, Eno Moebius Roedelius, Harald Grosskopf, Moebius & Plank, Pyrolator, Riechmann, Kluster, Günter Schickert und Asmus Tietchens. (7,5 von 10 Punkten)

Anm. der Red: Wie immer gilt: die digitale Veröffentlichung kommt meist zuerst. Seht es euren Plattenläden nach, wenn sie die LP/CD noch nicht vorrätig haben.