FRANZ FERDINAND – The Human Fear

Sie zählen zu den bekanntesten und erfolgreichsten Indie-Rock-Bands ever. Ihr größter Hit "Take Me Out" zählt heute fast eine Milliarde Streams. Nach sieben Jahren Pause nun die neue Platte: noch nie haben sie so lange für ein Album gebraucht. Was einerseits an der Pandemie lag – bzw. daran, dass das Label nach dem Ausstieg ihres in Oberbayern lebenden Gitarristen Nick McCarthy erstmal eine Best-Of-Compilation rausbrachte, um Zeit zu gewinnen. Denn danach stieg auch der Drummer aus.

Auf dem neuen Album sind also nur noch zwei Original-Mitglieder dabei. Zum ersten Mal hören wir die neue Drummerin Audrey Tate. Franz Ferdinand sagen: Die Schottin ist eine der besten Schlagzeugerinnen der Welt. "Don't stop feeling audacious", singt Alex Kapranos im nach den Beatles klingenden Auftakt: "Höre nicht auf, dich verwegen zu fühlen". Denn nur mit Mut kommen wir weiter und überwinden die Angst. Und um die geht es auf dem Album: "The Human Fear" handelt vom Menschsein und seiner treuen Begleiterin, der Angst – in all ihren Variationen. Der Angst, sich sozial zu isolieren; der Angst, eine Institution zu verlassen oder der Angst, eine Beziehung zu verlassen – bzw. in ihr zu bleiben.

"Das Leben wird nicht einfach sein, aber wenn du es mit mir lebst, dann werden wir es ausleben, Tag und Nacht" – "Night Or Day" war die zweite Vorabsingle. Es schüttelt Angst und Zweifel vor Veränderungen in einer Beziehung ab. Für Sänger und Gitarrist Alex Kapranos hat sich viel geändert: Er wurde zum ersten Mal Vater. Die Mutter seines Sohnes ist auch auf dem Album zu hören: Clara Luciani, die französische Nummer-1-Musikerin, singt Background. Die Fans kennen sie schon von "Summer Wine", der Coverversion, die sie mit Alex Kapranos 2020 einsang. Diese ist jedoch nicht auf dem Album enthalten.

Neu bei Franz Ferdinand sind einerseits Keyboards und Piano-Parts, die stellenweise den Gitarren-Sound in den Hintergrund drängen: Julian Corrie, der neue Mann an den Tasten, ist bei jedem zweiten Song Mit-Komponist. Und an einer Stelle erforscht Alex Kapranos erstmals seine Herkunft: Sein Vater ist Grieche, und beim Stück "Black Eyelashes" hören wir erstmals griechische Klänge bei seiner Band – die vielleicht schönste Überraschung auf dem Album. Als Produzent von Los Bitchos war er schon vor ein paar Jahren nah dran am Rembetika, dem "griechischen Blues".

Die Fans können es kaum erwarten: Ihre drei Deutschland-Konzerte im Februar sind seit Langem ausverkauft: München, Berlin und Köln. Nachdem sie bei der ersten Post-Nick-McCarthy-Platte ins stilistische Trudeln kamen, haben sie sich gefangen. Franz Ferdinand stehen wieder fest auf dem Sockel. (7,9 von 10 Punkten)

MOONCHILD SANELLY – Full Moon

Beim Alien Disko-Festival von The Notwist im Dezember im Münchner Volkstheater bekam sie den Abschluss-Slot auf der großen Bühne. Zu Recht: Die Südafrikanerin begeisterte trotz Halb-Playback-Show ein Publikum, das ihrem Charts-Sound aus Pop-Rap mit Dance-Grooves mindestens sehr kritisch gegenüberstand. Doch Moonchild holte mit ihrer Tanz-Show – zusammen mit ihrem Musik-Partner Ash – alle ab bzw. ungemein viel raus. Ab der ersten Sekunde hatte sie das Publikum auf ihrer Seite.

Auf ihrem neuen Album fehlen die house-igen Amapiano-Anklänge – mit ihrem Song "Covivi" hat sie es 2022 in unsere Jahres-Charts geschafft. Im Interview vor dem Auftritt erzählte mir Sanelisiwe Twisha – so ihr bürgerlicher Name –, dass sie es mit dem dritten Album allen zeigen will: ihrer Mutter, die sie zur Großmutter gab, da Ma ein Bordell betreibt – und auch dem Onkel, der ihr gegenüber sexuell übergriffig wurde.
Moonchild begann Gedichte zu schreiben, hasste die Opfer-Perspektive – und trat die Flucht nach vorn an. Sie wurde Tänzerin und Sängerin und schrieb einen Plan auf: Sie will mit Beyoncé, mit den Gorillaz und Diplo zusammenarbeiten. Was sie inzwischen geschafft hat. Nun will sie Geld verdienen. Sie hat das Recht dazu. Und mit dem neuen Album auch die Aussichten drauf. (keine Wertung, da nur fünf Songs vorhörbar)

LAMBRINI GIRLS – Who Let The Dogs Out

Für Fans lauter Gitarren beginnt das neue Jahr mit einem Bang: Das Debüt der englischen Lambrini Girls wird das Herz der Post-Punk-Fans höher schlagen lassen. Das queere Trio aus Brighton ist mit seinem Debüt beim Berliner Renommée-Indie CitySlang gelandet. Phoebe, Lilly und Drummer Banksy (nicht DER Kunst-Banksy) überzeugen mit halsbrecherischem Tempo und Humor ("Big D*** Energy", "No Homo", "Filthy Rich Nepo Baby", "Cuntology 101"). Gute Frage: Sollen Männer beim Refrain mitsingen: "I'm cunty"?!

Mit ihrer Räudigkeit und Schörkellosigkeit haben sie es schon aufs Glastonbury Open Air geschafft. Iggy Pop findet sie großartig. Die Lambrini Girls passen auf eine Post-Punk-Playlist zwischen Amyl & The Sniffers und den Idles. Für beide Bands waren sie schon Support Act. Leider spielen sie mit dem ersten Album nicht im Süden (4.3. Leipzig, 5.3. Berlin, 17.3. Köln). Gratulation an die Drei und ihr Label City Slang! Sie werden in keiner guten 2025-Liste fehlen. Was für ein Paukenschlag, was für ein Einstand, was für ein Beginn des Pop-Jahres! (8,5 von 10 Punkten)

TIMOTHÉE CHALAMET – A Complete Unknown (Original Motion Picture Soundtrack)

Der Film startet in Deutschland am 27.2., die Filmmusik kam schon kurz vor Weihnachten. Hollywood-Darling Timothée Chalamet ("Interstellar", "Call Me By Your Name", "Dune") spielt den jungen Bob Dylan. Von seiner Reise 1961 zum erkrankten Idol Woody Guthrie – wo ihm Dylan in Anwesenheit von Folk-Pionier Pete Seeger (Edward Norton) seinen "Song To Woody" vorspielt – bis hin zum Newark Folk-Festival 1965, wo ihn puristische Fans niederbuhen, da er nicht mehr mit der Akustischen, sondern mit der E-Gitarre auftrat. Basierend auf Elijah Walds historischem Text "Dylan Goes Electric!" aus dem Jahr 2015 konzentriert sich "A Complete Unknown" also auf Dylans Leben zwischen seiner Ankunft in New York und seinem angeblich kontroversen Auftritt – heute so etwas wie der Beginn von Folk-Rock. Der Regisseur James Mangold hatte auch schon das Johnny-Cash-Biopic "I Walk The Line" gedreht und die SchauspielerInnen die Stücke singen lassen: Joaquin Phoenix und Reese Witherspoon als June Carter Cash.

Hier sind es Chalamet und Monica Barbaro – als Joan Baez. Chalamet, Norton und Barbaro brauchten fünf Jahre für ihre musikalische Vorbereitung: ihre Instrumente zu spielen und live zu singen. Chalamet schaffte sich 13 Lieder für die Rolle drauf – und lernte mit Mundharmonika-, Dialekt- und Bewegungstrainern. Dazu montiert Mangold z.T. historisches Material, z.B. Original-Nahaufnahmen von wütenden Konzertbesuchern, die von dem Krawall erzürnt sind. Das US-Musik-Blog Pitchfork hat den Film schon gesehen und kritisiert: "Obwohl Dylan eine der mythologischsten und wissenschaftlich am besten erforschten Figuren der Musikgeschichte ist, muss man sich hier fragen, ob es sich bei ‚A Complete Unknown‘ um hochtechnische, groß angelegte Fan-Fiction handelt?" Mangold habe sich zwar mit Dylan getroffen und das Drehbuch ein wenig aufpoliert, aber Chalamet spiele Dylan schriller und cartoonhafter als der in seinen jungen Jahren tatsächlich klang – inkl. zu mürrischer, zu cooler Fassade.

Im Vergleich zu Barbaros Joan Baez fehle es Chalamet an echter Präsenz, und er wirke immer so, als stolpere er über einen Anzug, der fünfmal zu groß ist – heraus komme eine "pergamentdünne Handlung". Man hört den Chalamet-Covers das viele Üben an – aber außer den beiden flotten, rockigeren Stücken "Highway 61 Revisited" und "Subterranean Homesick Blues" ist für mich auch der Soundtrack verzichtbar. Dylan darf sich vom Ergebnis nicht wirklich geschmeichelt vorkommen, aber durch Chalamet werden viele junge Kino-Fans den echten Dylan entdecken. (6,0 von 10 Punkten)

APHEX TWIN – Music From The Merch Desk (2016–2023)

Kein neues Studioalbum vom englischen Elektro-Zauberer, sondern seine sechste Compilation. Der rein digitale Sampler von Aphex Twin erschien zwischen den Jahren bei Richard James' Stammlabel Warp und enthält 38 Stücke, die er bei seinen Konzerten spielte und mitschnitt: in Houston, Texas (2016), London (2017, 2019 und 2023), Manchester (2019) und Barcelona (2023).

Neben ordentlichen Noise-Tracks gibt's auch funky Favoriten wie "pretend analog extmix 2b,e2,ru" und das Drum'n'Bass-lastige – Achtung, Luftholen – "21TXT1+4 ds8 flngchrods[sketch0.1b] [London 03.06.17]". Allein diese beiden Nummern machen einen als Fan schon glücklich. (8,0 von 10 Punkten)

NICOLAS JAAR – Piedras 1+2

"Space Is Only Noise" hieß das wellenschlagende Debüt des chilenisch-stämmigen New Yorkers, das ihn 2011 mit seinem Ambientronica-Sound schnell bekannt machte. Später gründete er das Duo Darkside und füllte mit psychedelischem Electro die Hallen. Nun wieder eine Solo-Doppel-LP: Ausgangsmaterial war ein Song, den das Museum für Erinnerung und Menschenrechte in Santiago für eine Ausstellung über das Pinochet-Regime in Auftrag gegeben hatte. Das daraus entstandene fünfstündige Hörspiel verbreitete Jaar via Telegram und Bandcamp, wobei der Erlös an Wohltätigkeitsorganisationen gespendet wurde: die Mapuche-Gemeinschaften und die Palästinenser in Gaza. Jaar, Sohn des Installationskünstlers Alfredo Jaar, der schon bei Biennale und Documenta ausstellte, skizziert die Verbindung zwischen der Kolonialisierung Chiles und dem Heiligen Land.

In Chile lebt die weltweit größte palästinensische Diaspora außerhalb des Nahen Ostens. Auf der Platte geht es um eine fiktive Anarchistengruppe, die die Internetkabel kappen: auf einmal sind UKW-Radio-Wellen das einzige Kommunikationsmittel. In seinem Hörspiel geht es auch um die Geschichte eines Kindes, das in der Wüste verschwindet – das berüchtigte Verschwinden von Bürgern erinnert an das Pinochet-Regime der 1970er Jahre. Außerdem verarbeitet Jaar die Lebensgeschichte seiner Großmutter und führt uns zurück in seine frühen Tage als Club-Kid.
Schön, dass man die 20 Tracks auch ohne den Hintergrund hören und genießen kann. Vor allem "Song Of Hope", "SSS3" und "Sin Conexion" – der wie von "Space Is Only Noise" klingt. Jaar bleibt einer der Ambient-Artists, die Musik gut und nah an der Kunst halten. (8,1 von 10 Punkten)

POLYGONIA – Upside Down EP

Was für ein Talent: die Münchner DJ-Produzentin Lindsey Wang hat es mit ihrer neuen EP zum extraklasse Mule Musiq-Label geschafft. Seit 20 Jahren veröffentlichen dort Electronic-/Minimal-Techno-Größen wie Roman Flügel, Lawrence, DJ Sprinkles, Superpitcher und gar Krautrock-Pionier Roedelius. Und ihre fünf neuen Songs haben es absolut verdient, dort zu erscheinen.
Polygonia, die die Fans aus dem Blitz Club München kennen und die auf Festivals rund um den Globus spielt, sagt uns exklusiv zur "Upside Down EP":

Von Polygonia werden wir noch viel hören. Werden? Wollen! (8,4 von 10 Punkten)

TOM BIOLY – Chasin´ A Dream EP

Das Club-Label Permanent Vacation gönnt sich nur eine kurze Pause zwischen den Jahren. Tom Bioly, einer der beiden Label-Betreiber, legt mit einer recht abwechslungsreichen 7-Track-EP nun die erste Veröffentlichung im neuen Jahr vor.

PV, wo auch Benjamin Fröhlich (der zweite Mitbetreiber), Rhode & Brown (das Duo um Rundfunkorchester Ehrenfeld-Orchester-Chef Lorenz Rhode) sowie die gefeierten DJ-ProduzentInnen Sam Goku oder Joyce Muniz zuhause sind (bzw. waren), gelingt mit der "Chasin´ A Dream EP" ein solider Grundstein für 2025: House, Electro, Electronica – nach hinten raus werden Tom Biolys Tracks immer ruhiger und deeper und intensiver. An der Stelle sollte man auch gleich Toms "Lido"-Single aus dem Sommer nachhören. Allesamt aus der eher sweet & short-Fraktion. Good to have him back! (8,0 von 10 Punkten)

MONOSTARS – Alles Wollen Nichts Müssen

Seit 30 Jahren sind sie eine der eher leiseren bzw. zu Unrecht übersehenen/überhörten Formationen des Südens: die Zwischentöne sind es auch, die das 7. Album der Band um Gitarrist Lenz Lehmair (der Bruder von Puch Open Air-Mitbetreiber Hubert Lehmair) und Sänger/Bassist Norbert Graeser ausmachen. Sie stehen für smarten, deutschsprachigen Indie-Pop mit Twist – bzw. Stream-Of-Consciousness-artigen Texten, deren Messages sich nicht so schnell copy & pasten lassen. Ein weiteres Kennzeichen der Monostars ist die Weigerung, große Gesten oder Refrains aufzufahren. Andere sind Superstereo, hier regiert: Mono. Diese Unaufgeregtheit hat ihren ganz besonderen Reiz.

Leider ging nun die Veröffentlichung nach Plattenfirmen-Hin-und-Her mit Alfred Hilsberg und seinen Labels What's So Funny About (Blumfeld) bzw. Zick Zack (FSK, Neubauten) zwischen den Jahren so gut wie unter. Zuhause wird sie erstmal trotzdem begossen: das Release-Konzert findet am 30.1. in Münchens Roter Sonne statt. Und im Sommer vielleicht wieder beim Puch Open Air? (7,5 von 10 Punkten)

SASEBO – Ça C'est Bon

Eine interkontinentale Institution des Südens: Sasebo – die bayrisch-japanische Band um die Sänger Carl Tokujiro Mirwald und Toshi Kusaba – mit ihren sieben Münchner FreundInnen. Nach Echokammer und Gutfeeling heißt das Label für Album Nummer 3: Rheinschallplatten – das uns zuletzt griechische Sounds von Ta Mourmourakia, bezaubernden Indie-Folk von Doe Bed und klasse koreanische Fake-Soundtracks von Khavn & The Kontra-Kino Orchestra bescherte.

Sasebo kombinieren japanische Folkmusik mit Rumpel-Brass & Blues, Anarcho-Dilettantismus und dem Spiel mit kulturellen Klischees. Wie fragte die SZ: Hat sich hier ein japanischer Captain Beefheart mit osteuropäischer Folklore infiziert? Am 18. Januar präsentieren die neun Non-KonformistInnen die neue "Ça C'est Bon"-LP in der Goldmarie München. Ob Toshi in der Loden-Bomberjacke auftritt, von der er schon so lange träumt? (7,5 von 10 Punkten)

DEUTSCHLAND GMBH – Geld Blut Hass

Sieben bayrische Acts sind 2024 in den Zündfunk + Nachtmix-Album-Charts vertreten: G.Rag & Die Landlergschwister waren auf Platz 21 die höchsten in unseren Top 50, gefolgt von Das Format aus Augsburg, dem Klangkollektor aus Nürnberg auf Platz 25 – und dann kommen schon sie: die brachialen Punk-Metal-Electro-Goth-Newcomer aus München. Die Deutschland GmbH belegt mit ihrem 2. Album "Geld Blut Hass" Platz 36 bei uns – noch vor so weltberühmten Acts wie Billie Eilish, St. Vincent oder Bright Eyes. Gratulation an Sänger Max Mustermann – so nennt er sich – und seine wirklich schrill wirkende Band.

Im Zündfunk-Interview mit Kollege Ferdinand Meyen sagte er, dass sie einen Nerv bei jungen Menschen treffen – mit ihren harten, politischen Songs im Partykontext: Rechtsruck, Abschottung, Kapitalismus – "die Menschen arbeiten sich zu Tode in ihren Vollzeitjobs." Die neuen Stücke heißen "Zu Reich" oder "Festung Europa". Ihr Streaming-Spitzenreiter heißt "Berlin" – klar gegen den Hauptstadt-Hype. Und "Spielstraße" sollte es auch ins Radio schaffen. Diese Band ist sowas von einer Bereicherung mit ihrem Brett von Sound! (7,5 von 10 Punkten)

GOOSE DOWN – Material Needs

House aus L.A. von Micah Smith – auf seinem sechsten Album pendelt er zwischen Minimal/Disco/Funk-Anleihen. Das Ergebnis klingt nach Old-School-Moods – angereichert durch Soul-/Jazz-/R'n'B-Einflüsse. Alles durch die Filter gejagt, bis die Maschinen smooth & groovy klingen. Was ihm Props bei BBC und NTS einbringt – und Respekt in der weltweiten DJ-Community. Danke, Kompakt! (7,5 von 10 Punkten)

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