Neuerscheinungen der Woche Neue Alben von SOPHIE, Alan Sparhawk, Naima Bock, Lou Reed u. a.
Welche relevanten Platten erscheinen morgen, was sollte man sich davon nicht entgehen lassen und worauf kann man vielleicht auch besser verzichten. Darum geht's in unserem wöchentlichen Neuheiten-Check. Heute im Focus – die neuen Alben von Naima Bock, Kit Sebastian, SOPHIE, TSHA, Hayden Thorpe, Ebow, Alan Sparhawk, Lou Reed, Ezra Collective und Rahim Redcar
Kit Sebastian – "New Internationale"
Sie sind die Definition von kosmopolit: Das Duo Kit Sebastian besteht aus Merve Erdem und Kit Martin, die in London lebend keine ihrer anderen Identitäten abstreifen, sondern musikalisch in Einklang bringen. Ihre Wurzeln haben sie in der Türkei, England und Frankreich, ihre Musik enthebt sich aber elegant Ort und Zeit. Schmissig, sehnsüchtig und verwunschen regiert die Nostalgie, die smart heraufbeschworen wird, mit einer sich immer mehr erweiternden Palette von Instrumenten. Denn auch wenn man es meinen mag: Hier wurde nix gesampelt, alle Klänge sind selbst eingespielt worden. Das Equipment reicht von analogem Synthesizer über türkische Klarinette bis hin zur Zither. Ein Muss für Fans von den souligen El Michael's Affair oder den psychedelisch angehauchten Altın Gün. Kit Sebastian touren im Oktober mit dem Album auch durch Deutschland. Halt machen sie unter anderem in Berlin und München. (7 von 10 Punkten)
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Kit Sebastian - 'New Internationale' (Official Audio)
Naima Bock – "Below A Massive Dark Land”
Seit der Band "Goat Girl" kennen Musikfans schon Naima Bock. Die war krachig – und die hat Naima Bock hinter sich gelassen. Ihr Debütalbum wurde viel gelobt und war ein überraschender Wandel, weil bedeutend ruhiger und mit Einflüssen aus Brasilien, woher ihre Mutter stammt. Folkiger Singer/Songwritersound hat dominiert. Und diese Richtung schlägt Naima Bock auf ihrem zweiten Soloalbum weiter ein. Zu Beginn des Albums wird auch mal kraftvoller. Die meisten Songs auf "Below A Massive Dark Land" sind zart und geerdet. Die Engländerin stellt sich in ihren Texten in den Kontext der Natur. Sie spürt den Wind. Wellen und die Gezeiten tauchen immer wieder als sinnliche Metaphern auf, so wie auch Jahreszeiten. Als wolle sie Teil des Rhythmus der Natur sein – von dem Erblühen und Verblühen, dem wieder Aufleben und Zerfallen, ausgesetzt der Witterung. Das passt zu ihrem Privatleben: Naima Bock war Gärtnerin und hatte angefangen, Archäologie zu studieren. Eine Künstlerin mit Bodenhaftung. Die feinsinnige Schönheit erschließt sich Manchem wohl eher nach mehreren Durchgängen – oder gar nicht. (8 von 10 Punkten)
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Naima Bock - Moving (Official Visualizer)
SOPHIE – "SOPHIE"
Produzentin SOPHIE war Liebling der Kritik und Liebling der Popstars. Das ewige Idol Madonna hat mit ihr gearbeitet – und die Britin Charli XCX, die kürzlich zurecht Weltruhm erlangt hat. Die beiden verband eine jahrelange Freundschaft und Zusammenarbeit. SOPHIE wurde gefeiert als Hyperpop-Pionierin – beherrschte sowohl Zucker-Pop als auch Krach-Avantgarde. Einmal habe ich SOPHIE live gesehen. Das DJ Set war im Grunde untanzbar – und große Klasse. Nun kommt also ein posthumes Album. SOPHIE ist 2021 verstorben, im Alter von 34. Zur Todesursache gibt es unterschiedliche Informationen. Wahrscheinlich gehören Dünkel um das Ableben von Stars genauso dazu wie um die Verwaltung ihres kulturellen Erbes. Das Album, so heißt es, sei damals bereits so gut wie fertig gewesen. Es wäre von SOPHIEs Bruder lediglich fertiggestellt worden. So ein Projekt hat natürlich immer einen Beigeschmack. Hätte SOPHIE wirklich dieses Album gemacht? Und sich so oft selbst zitiert? Wäre SOPHIE weiter gegangen? Wer weiß das schon. Auf jedem Song kollaboriert ein Artist mit SOPHIE. Derartige posthume Projekte laufen Gefahr, zu einer Mini-Playbackshow zu werden: Jemand schlüpft in die Rolle der zu ehrenden Person und tut mal ein paar Minuten lang so, als ob. Das ist hier nicht so. Von langjährigen Collaborateuren bis hin zu Überraschungen sind hier durchweg aufrichtige Verbeugungen zu hören, von Nina Kraviz bis zu Hyper-Pop-Begleiterinnen wie Kim Petras und Hannah Diamond. Manche Songs konnten Fans hier und dort schon hören, andere waren vorher gänzlich unbekannt. Mich hat das Album immer dann berührt, wenn das Außerkörperliche zu Thema wird. Über SOPHIEs Privatleben ist kaum etwas bekannt. Mal heißt es, SOPHIE hätte sich als nonbinäre Person Personalpronomen verbeten, dann wieder wäre SOPHIE mit allen Pronomen fein gewesen. Aber immer war Teil von SOPHIEs Botschaft, dass wir nicht bleiben müssen, wie wir geboren werden. Und auch, dass wir mehr sein können als unser Körper. Das Thema klingt auf dem Album zuweilen bedeutungsschwanger an. Mir gefällt es mehr, wenn die Komplexität der Transzendenz in Pop-Weisheiten verpackt wird, wie mit "what is it worth to love me on earth" ("Love Me Off The Earth"). Natürlich kommt das Album nicht an vorherige SOPHIE-Alben ran. Aber derartige wollen hinterlassene Lücken nicht schließen, sondern sie aufzeigen. (7 von 10 Punkten)
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SOPHIE - 'SOPHIE' (Full Album Stream)
Hayden Thorpe – "Ness"
Die britische Band Wild Beasts konnte man verorten zwischen Indierock und Rock und sehr gut erkennen konnte man sie auch. Das Markenzeichen: Der Falsettgesang von Frontmann Hayden Thorpe. Die Wild Beasts gibt's nicht mehr und Hayden Thorpe flötet solo weiter. Sein neues Album "Ness" ist ein ambitioniertes Konzeptalbum. "Ness" meint einen Ort, nämlich Orford Ness an der Südostküste Großbritanniens. Ein Platz, an dem das Verteidigungsministerium Englands Waffen entwickelt hat, während der beiden Weltkriege und während das Kalten Krieges. Den Ort könnte man einen Lost Place nennen – verwildert und faszinierend soll er sein. Ich habe zur Musik im Internet gesucht: Das eine oder andere Gebäude steht noch, sonst ist da viel freie Fläche, Gras, Küste. Und zu diesem Ort gibt es das Buch "Ness". Mit dessen Autor hat Thorpe auch zusammengearbeitet, für dieses Album und Texte aus dessen Buch verwendet: Das war jetzt etwas Frontalunterricht. Hayden Thorpes Album "Ness" nimmt sich schon sehr ernst. An einigen Stellen wird die Gegend und die Geschichte von diesem Lost Place Orford Ness so dramatisch inszeniert, dass es etwas musicalhaftes hat. Hayden Thorpes hat eine unglaubliche Lust am Erzählen davon, was dieser Ort zu erzählen hat, was jeder Gegenstand zu berichten wüsste und welche Geschichten in zehn Jahren erzählt werden könnten - oder in hundert Jahren. Dieses sensible Nerdtum ist ansteckend. (7 von 10 Punkten)
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Hayden Thorpe - V. (Official Video)
TSHA – "Sad Girl"
Wir schreiten auf den Dancefloor, gemeinsam mit TSHA. Ihre Mutter war Raverin, ihr Bruder DJ - TSHA ist praktisch mit Clubsounds aufgewachsen. Vor zwei Jahren kam das Debütalbum der Produzentin und DJ raus, was von den Medien der elektronischen Musik viel beachtet worden ist: Das DJ Mag etwa hat es zum Album des Jahres erklärt. Auf ihrem neuen Album "Sad Girl" singt sie sogar selbst. Das ist ein Novum. Wobei der Titel mehr Introspektive verspricht als zu hören ist. Die Botschaft: Es gibt nicht nur Hochs, sondern auch Tiefs. Ganz so introspektiv wie der Vorgänger kommt mr dieses Album nicht vor und doch ist ein mutiger Schritt – weg von dem, was als kredibel gilt und hin zu dem, was TSHA laut eigener Aussage viel lieber machen wollte. Das Album verschreibt sich zwar der Zugänglichkeit. Andererseits hat TSHA es mit so vielen Verweisen gespickt, dass man auch fernab der Melodien einiges entdeckt: 90s Anleihen aus R'n'B, von Techno-Hit und auch britische Club-Genres wie Two-Step oder Garage ("Can't Dance"). TSHA wird dieses Jahr noch in einigen warmen Gefilden auflegen, wie auf Malta. Und genau dort wird dieses Album brillieren. Es erscheint auf dem renommierten Label Ninja Tune. (6 von 10 Punkten)
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TSHA - 'Sad Girl (feat. Dan Whitlam)' (Official Audio)
Alan Sparhawk – "White Roses, My God"
Ein weiteres Album, das im Kontext eines Verlustes zu hören ist, ist das von Alan Sparhawk, einem Teil der renommierten Band "Low", immer in Entwicklung und doch meist dem Auf und Ab verschrieben, der Stille und dem Platz, mitten in den Songs. "Low", das waren Alan Sparhawk, ein wechselndes Mitglied und seine Frau Mimi Parker – die 2022 an Krebs verstorben ist. "White Roses, My God", ist Alan Sparhawks erstes Album seitdem. Er und Parker hatten sich als Teenager kennengelernt. Sie haben zwei Kinder, mit denen er ebenso Musik macht. Auch wenn es auf dem Album keinen Song gibt, in dem es explizit um seine Trauer geht – kann ein erstes Album nach dem Ableben frei davon sein? Natürlich interpretierten wir beim Hören. Etwa bei dem Songtitel "Heaven" oder "I Made This Beat". Auf dem Sparhawk – wie oft auf dem Album – mantraartig eine Zeile wiederholt, hier "I Made This Beat". Den Beat, den hatte zuvor Mimi Parker gemacht, die Schlagzeugerin.
Die frühen Low-Fans mag es überraschen: Sparhawk verzerrt das ganze Album hinweg seine Stimme wie einst Cher – und findet die Referenz in einem Interview mit dem Guardian auch total super. Auch wenn natürlich genauso Referenzen wie Prince oder Neil Young fallen. Experimentierfreudig ist Sparhawk wie eh und je. Ein Album ist immer eine Momentaufnahme und dieses ist ganz klar Zeugnis eines wichtigen Prozesses – aber ich bin noch gespannter, wohin die Reise danach geht. Veröffentlicht wird es bei Sub-Pop, wie die letzten "Low"-Alben auch. (7 von 10 Punkten)
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Get Still
Ebow – "FC Chaya"
Fußballtrikos sind in Mode. Wer sich trotzdem nicht den Clubs verschreiben möchte, könnte sich in aktuelles Merchandise von Ebow kleiden. Die Rapperin und Sängerin Ebow hat da gerade Trikots im Angebot, auf denen "FC Chaya" steht – ihr Albumtitel. Mit so einem Trikot würde man doppelt Geschmack beweisen. Denn Ebows Album ist bemerkenswert: breitschultrig, zart, verliebt, zweifelnd und flirty. Ebow spielt mit Narrativen des HipHop und geht ihnen doch nicht auf den Leim. Der Bruch mit Klischees ist mal explizit, mal implizit – auch weil sie thematisiert, dass sie eine lesbische Frau mit migrantischem Hintergrund ist. "FC Chaya" steht nicht zuletzt für einen emotionalen Club, für ein "du bist nicht allein, wir sind eine Gemeinschaft". Auch wenn für meinen Geschmack nicht jede Idee aufgeht, ist die Vision des Albums bewundernswert klar und seine Authentizität eine Wucht. Im November wird Ebow unter anderem in Berlin, Hamburg und Leipzig spielen. (9 von 10 Punkten)
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Ebow - Ebru's Story (Produced by walter p99 arkestra)
Ezra Collective – "Dance, No One's Watching”
Wenn wir tanzen, sehen wir alle gleich aus, meint Ezra Collectives Femi Koleoso. Auch wenn ich dem aus anekdotischer Erfahrung direkt widersprechen möchte, trägt diese Aussage eine verbindende Schönheit in sich, die zur gelebten Mission des Quintetts gehört. Das dritte Album steht auch wieder im Zeichen der Gemeinschaft und der Freude. Es ist ein positives Album, das auch die urbane Facette von Ezra Collective weiter beinhaltet. Die Londoner lassen mal Arsenal Spieler Ian Wright hören, sie haben mit krediblen Rappern wie Loyle Carne oder Sampa The Great gearbeitet, nun ist unter anderem die Südafrikanerin Moonchild Sanelly dabei. Das hier ist Jazz, aber er ist nicht elitär. So schlagen Ezra Collective die Brücke zum Pop, letztes Jahr haben sie den renommierten Mercury Prize für das vorangegangen Album ("Where I'm Meant To Be") erhalten und die Energie aus der Bestätigung und der Tour scheint direkt in das neue Album eingeflossen zu sein. (8 von 10 Punkten)
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Ezra Collective - No One's Watching Me (feat. Olivia Dean) [Official Visualiser]
Lou Reed – "Why Don't You Smile Now: Lou Reed at Pickwick Records 1964-65”
Er wurde berühmt als Velvet Undergrounds Mitbegründer und Frontmann – kaum jemand kennt nicht das Albumcover mit der Warhol-Banane. Lou Reed, geboren und verstorben in New York, ein Kleinod der Musikgeschichte. Eins, dessen Facetten immer wieder neu beleuchtet werden. Und immer wieder drängt sich dabei die Frage auf, wogegen dieser Mann eigentlich nicht rebelliert hat und in welcher Arbeit mit Sprache er sich nicht zumindest mal ausprobiert hat. Eine neue Compilation erinnert nun nicht nur an den legendär-exzentrischen Star, sondern auch an den frühen virtuosen Singschreiber. Der bei dem Label Pickwick Records unter Vertrag war, um für andere Bands zu schreiben. Diese Songs sind versammelt auf "Why Don't You Smile Now". Entstanden sind die Songs von 1964 bis 1965. Balladen sind dabei und Blues und Rocksongs. Beinharte Fans dürften diese Songs kennen. Für alle anderen ist es eine neue Perspektive auf Lou Reed und eine – immer wieder auch die Füße – bewegende Zeitreise. Zu hören war vorab nur ein Song. (Keine Bewertung)
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Cycle Annie
Rahim Redcar – "Hopecore"
Hier haben wir es nicht mit einem neuen Artist zu tun, sondern einer Neuerfindung. Rahim Redcar ist den Meisten besser bekannt als "Christine and the Queens". Unter diesem Namen hat Rahim von Frankreich aus mehrere Pophits veröffentlicht – meist geschmeidiger Elektropop - die auch im Mainstream ankamen. Der Namenswechsel kommt für einige doppelt überraschend. Der Name Rahim tauchte schon einmal auf, dann war wieder hinfort und "Christine and the Queens" in Verwendung, nun wieder Rahim. Fans rätseln natürlich schon, ob ein Labelvertrag im Zusammenhang mit dem alten Künstlernamen Grund dafür ist. Die Zeichen stehen jedenfalls auf Neuanfang. Das Video zur Single "Deep Holes" ist puristisch gedreht, von smoothem Licht und anderem Pop-Profi-Spiel ist nicht zu bemerken, der Sound klingt nach Befreiung. Das Albumcover erinnert an David Bowie und a-has 80er-"Take on Me"-Video. Und der Albumtitel "Hopecore" tut sein Übriges. Das Versprechen ist eine große Eruption, eine Wende, ein Aufbruch. Vorab gab es leider nur die erwähnte Single zu hören. (Keine Bewertung)
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Rahim Redcar - DEEP HOLES (Official Video)