Das Thema Das Exil und seine Folgen
Egal ob gemalt, gefilmt oder nacherzählt, die Übergabe der Gesetzestafeln am Gottesberg hat sich tief in das kulturelle Gedächtnis des Christentums und des Judentums eingegraben.
Der Dekalog als Gründungsurkunde des Monotheismus
Es ist ein mächtiges Bild, weil es die Zehn Gebote als unmittelbare Selbstoffenbarung Gottes festschreibt. Doch wie die Auslegung des Gesetzes im Deuteronomium sind auch die im Exodus überlieferten Zehn Gebote keinesfalls in Rauch und Feuer, Donner und Blitzen am Gottesberg vom Himmel gefallen, sondern in wesentlichen Zügen erst im exilgeprägten 7. Jahrhundert entstanden.
Schutzwall gegen den Identitätsverlust
Dabei bauten die Verfasser ältere Vorstufen aus, um sie den aktuellen Bedingungen anzupassen. Ein Niederschlag dieser Adaption ist die besondere Betonung des Sabbatgebotes, die erst in der Exilzeit in das vorhandene Material hineingeschrieben wird. Der Ruhetag sollte den Verlust des Tempels kompensieren und den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinde stärken. Zugleich zieht der Sabbat eine scharfe Grenze gegen Nichtjuden, die diesen Tag nicht begehen. Auch die gegenüber älteren Vorstufen deutlich hervor gehobene Pflicht der Elternehrung hat ihre Wurzel in der Exilzeit und im Verlust aller kultischen und staatlichen Organisationen. In der Diaspora wird die Familie zur einzigen durchgreifenden, bewahrenden und richtungsweisenden Organisationsform und bedarf besonderer Schutzgebote. Ein dritter Hinweis ist zudem die massive Akzentuierung des Eingottglaubens (Monotheismus). Sie hat zwei Funktionen: Zum einen stemmt sich der Monotheismus gegen den religiösen Assimilierungsdruck, der von den Exilierten die Übernahme der Siegergötter forderte. Zum anderen brandmarkt sie die in Israel praktizierte Vielgötterei der Vorexilszeit als Ursache der jetzigen Situation.
Gesetztreue als Heilsgarant
Mit der in die Mose-Zeit zurückverlegten Verankerung des Eingottgebotes entsteht eine stringente Argumentationskette mit folgenden Kernaussagen: Auf dem Sinai empfängt Mose das Gesetz, keine anderen Götter zu verehren und keine Götterbilder zu schaffen als oberste Bundespflicht. Mit der Anbetung des Goldenen Kalbes missachtet Israel dieses Gebot und ruft damit den Zorn Gottes hervor. Damit ist eine dialektische Grundlinie gezogen, die zum Deutungsmuster des Exilgeschehens wird: Solange Israel die Gesetze achtet und nur dem Bundesgott Jahwe gehorsam ist, bleibt es in der Liebe und im Schutz seines Gottes:
"Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst, indem du auf alle seine Gebote, auf die ich dich heute verpflichte, achtest und sie hältst, wird dich der Herr, dein Gott, über alle Völker der Erde erheben."
(Dtn 28,1)
Geschichte ist göttliches Gericht
Sobald Israel aber abtrünnig wird, die Gesetze bricht und Götzen verehrt, ist der Zorn Gottes unausweichlich. Die Folgen sind im Buch Deuteronomium klar formuliert:
"So wie der Herr seine Freude daran hatte, euch Gutes zu tun und euch zahlreich zu machen, so wird der Herr seine Freude daran haben, euch auszutilgen und euch zu vernichten. Ihr werdet aus dem Land, in das du nun hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, herausgerissen werden. Der Herr wird dich unter alle Völker verstreuen, vom einen Ende der Erde bis zum anderen Ende der Erde. Dort musst du anderen Göttern dienen, die du und deine Väter vorher nicht einmal gekannt haben, Göttern aus Holz und Stein. Unter diesen Nationen wirst du keine Ruhe finden. Es wird keine Stelle geben, wohin du deinen Fuß setzen kannst. Der Herr wird dir dort das Herz erzittern, die Augen verlöschen und den Atem stocken lassen."
(Dtn 28,63ff.)
Gott hält Wort, im Guten wie im Schlechten
Die Stoßrichtung dieser anachronistischen Ausweitung ist offensichtlich: Sie deutet das gegenwärtige Geschehen als lange vorher angekündigtes Strafgericht Gottes. Die Züchtigung der Wüstenwanderung wird zum erklärenden Bild des Exils, die Geschichte wiederholt sich als Erfüllung einer Prophezeiung: Nicht Gott hat versagt, sondern das Volk. Gott hat die Strafe angekündigt, und er Wort gehalten.