Roman Wie "Disko" ein feministischer und liebevoller Blick auf den Munich Sound gelingt
Der Roman "Disko" ist eine Heldinnenreise in den Munich Sound der 70er Jahre. Feministisch blickt Autor Till Raether auf mansplainende Mucker und angetrunkene Macker – und voller Wärme auf die Disko, in der Hauptfigur verzweifelt jemanden sucht.

Beeke ist 14, steht an einer norddeutschen Landstraße und hat ein Ziel: die Diskos in München. Da ist ihr Bruder, um Disko-Produzent zu werden. Was das ist, weiß Beeke nicht. Sie will ihn nur zurück, damit er die zerrüttete Familie rettet. In München, weiß Beeke, sucht ihr Bruder den sogenannten "Munich Sound". "Das sei, an diese Formulierung erinnere ich mich genau, das ganz große Ding. (…) Da würden Leute von amerikanischen Plattenfirmen durch die Diskotheken ziehen in München, mit Aktenkoffern voller Geld, man müsste nur den richtigen Ton treffen, also Sound."
Kurz vor München trifft Beeke eine Clique, die ebenfalls in die Großstadt will. Und wie Beeke in die Disko. Sie lachen die 14-Jährige mit ihrem kindlichen Aussehen zwar zunächst aus. Sie kennen aber immerhin ihren Bruder vom Hörensagen, wenn auch nicht unter seinem Namen Gerald, sondern als Produzenten "Jerry". Sie geben ihr eine Adresse einer Schwabinger WG. Doch Jerry ist untergetaucht, erfährt Beeke. Denn er hat sich mit Giorgio angelegt. Giorgio meint Giorgio Moroder, auch wenn der Nachname im Roman nicht fällt, also den echten Produzenten, der Mitte der 70er mit Sängerin Donna Summer den "Munich Sound" prägt.
Wie ein Landkind im Zentrum der Popkultur landet
Donna Summer mit "I feel love" und Bands wie Silver Convention mit "Fly, Robin, Fly" stürmen damals die Charts. Die Rolling Stones und Queen besuchen München und Moroders Studio. Und von New York bis Tokio tanzen Menschen zum Munich Sound. "Ich fand dieses Nebeneinander wahnsinnig interessant", sagt Till Raether. "Dieses Nebeneinander von Münchner Kneipe im Immer-noch-Nachkriegsdeutschland, das plötzlich durch diesen Munich Sound und die Diskothekenkultur in München und die Musikkultur, die da entstanden ist, so eine Bedeutung fast so als Weltzentrum der Musik hatte. Und das wollte ich gerne eine Person erleben lassen, die damit eigentlich überhaupt nichts anfangen kann."
Till Raether lacht an dieser Stelle, wenn er über seine Figur Beeke spricht. Und tatsächlich ist Beekes Blick auf den Munich Sound erheiternd. Till Raether lässt Beeke durch Kneipen stolpern, in WGs und schließlich ins Studio von Giorgio, mit dem ihr Bruder ja irgendwie zusammenzuhängen scheint.
Wie der Munich Sound zwischen Subkultur und Ware changiert
"Disko" nimmt immer wieder Anleihen an tatsächlichen Figuren und Orten, auch wenn sie im Roman anders heißen. Für den Roman hat Till Raether mit Zeitzeug*innen wie dem Songtexter und Produzenten Michael Kunze gesprochen, Ausstellungen wie über die berühmte Disko "P1” besucht und Biografien wie von Donna Summer gelesen. "Sie beschreibt Deutschland als so einen Zufluchtsort, wo sie sich eigentlich besser entfalten kann als in den USA, durchaus auch als Schwarze Frau und als Schwarze Künstlerin", so Till Raether. "Ich glaube, dass es damals in dieser Münchner Diskokultur und in dem Munich Sound ein starkes Element von Empowerment gab, von Menschen, die anderswo vielleicht eher an den Rand gedrängt oder nicht wahrgenommen worden sind. Aber ich denke, es war eine Art Subkultur des Bürgertums. Eine vielleicht etwas wildere, ausgelassenere, exzessivere Seite, aber im Habitus und im Auftreten der Leute und in dem, was vom Style her als erstrebenswert galt, schon sehr bürgerlich und eher auch ein bisschen konsumorientiert und kompatibel mit "hart feiern, aber dann auch wieder hart arbeiten".
Hart feiern – dabei muss Beeke erstmal zugucken. Denn mit ihrer Regenjacke und ihrem Rucksack droht sie am Türsteher der ersten Disko zu scheitern.
"Diesmal drehte er sich nicht mehr in meine Richtung, er machte eine Handbewegung über die Kordel hinaus und sagte, (...) und jetzt Schluss, er müsste arbeiten. Was bedeutete, dass er einfach nur dastand. Daran muss ich seitdem immer denken, wenn jemand mir sagt, er müsste arbeiten."
Auszug aus: Disko
Immer wieder helfen Beeke die Münchner Nachtgestalten. So auch Stella, die mit Beekes Bruder einen Song aufgenommen hat – und den Untergetauchten selber finden will. Sie und ihre Mitbewohnerin stylen Beeke dann auch für die Disko: zitronengelbes, ärmelloses Riffel-Top und Minirock. "Den beiden Frauen schien es wichtig, dass ich so viel wie möglich an Höhe gewann, darum stellten sie mich auf Hacken, die in meiner Erinnerung bestimmt zwölf Zentimeter hoch waren, (...) aus einem glasharten Plastik, durchsichtig und klar."
Warum "Disko" eine Heldinnenreise ist – keine Heldenreise
Auf der Suche nach ihrem Bruder verbündet sich Beeke mit den Feierwütigen. Während die meisten männlichen Helden in Büchern und Filmen allein in dunkle Welten hinabsteigen und gegen andere kämpfen, kollaboriert hier die Hauptfigur mit anderen. Autor Till Raether wollte bewusst eine Heldin. "Es gibt auch unangenehme Situationen, denen sie ausgesetzt ist, denen vielleicht ein männlicher Held nicht ausgesetzt wäre", sagt Till Raether. "Und dann muss ich auch sagen, dass es für mich schon auch in dieser Generation der Heldin, die im Jahr 1959/60 ungefähr geboren ist, dieses Versorgende gibt – sie muss sich um die Familie kümmern und ist diejenige, die die Familie zusammenhält. Das erscheint mir ein Schlüsselmerkmal von sehr vielen Frauen aus dieser Generation.”
Die junge Beeke, die eigentlich nur ihren Bruder sucht, um die Familie zu retten, findet in München eine ganze Subkultur – und trotzt mansplainenden Muckern. Till Raether blickt amüsiert und kritisch auf den Munich Sound – und voller Wärme auf die Disko. Eine Heldinnenreise in die Subkultur.
"Mit jedem Schritt, den ich näher kam, bebte der Boden ein wenig mehr. Die Bässe, die man fast nicht hörte, aber dafür umso mehr spürte… In der Disko also fielen Zeit und Raum ineinander. … Alle Informationen, die sich außerhalb der Disko befanden, waren innerhalb der Disko unwichtig."
Auszug aus: Disko