Bayern 2 - Zündfunk

Queer und wohnungslos "Queere Menschen sind bei Wohnungslosigkeit besonders vulnerabel"

Queere Menschen sind immer öfter von Gewalt und Anfeindungen betroffen – ob auf dem Arbeitsmarkt, im eigenen Umfeld oder auf der Suche nach einer Wohnung. Doch wer hilft, wenn queere Menschen auf der Straße landen? In Bayern genau eine Person.

Von: Sandra Lohse

Stand: 29.05.2024

Auf der Straße gelandet: Habseligkeiten eines Obdachlosen | Bild: dpa-Bildfunk/Hauke-Christian Dittrich

Nürnberg, nahe der Stadtmauer: Richie Steeger biegt in einen Park ab mit Blick auf den Hauptbahnhof. Bis auf ein paar Hundebesitzer ist er menschenleer. Kein Wunder, findet Richie Steeger, hier im Skulpturenpark ist die ehemalige Drogenszene. Um den Hals trägt der 51-Jährige ein gelbes Schlüsselband mit einem Ausweis: "Stadtführer, Straßenkreuzer" steht darauf. So nennt sich die Obdachlosenzeitschrift in Nürnberg, die auch Stadtführungen anbietet: "Ich habe beim Straßenkreuzer angefangen mit Frauenführungen", erzählt Steeger, "bis ich mich geoutet habe. Ich finde, als zukünftiger Mann habe ich da nichts zu suchen."  

Erst 2018 hat sich Richie Steeger als Mann geoutet. Nach einem langen Kampf mit sich selbst: "Ich habe das immer verheimlicht", sagt er. In seiner Jugend fängt er an Drogen zu nehmen. Dann macht er einen Entzug und wird immer wieder rückfällig. "Ich ekel mich vor meinem weiblichen Körper. Und das war einer der Hauptgründe, warum ich Drogen genommen hab, um meinen Kopf leer zu kriegen." In den 90ern landet er sogar für ein Jahr auf der Straße und dort könne man erst recht nicht offen queer leben, erzählt er.  

"Die Einrichtungen sagen: Wir gehen einfach nach dem, was im Ausweis steht"

Ein paar hundert Meter vom Skulpturenpark entfernt liegt das queere Zentrum Fliederlich. Gari Jaiser öffnet die Tür zu einem Meer an Regenbogenflaggen. Bei Fliederlich habe man schon lange erkannt, dass es queere Wohnungslosenhilfe braucht, erzählt Jaiser. Es gebe zwar Unterkünfte von der Wohnungslosenhilfe, das Problem sei aber "diese zumeist sehr harte Geschlechtertrennung von Mann und Frau – alles, was dazwischen ist oder außerhalb oder in der Transition, fällt da einfach raus."

Deshalb hat der Verein ein Hilfsangebot geschaffen: Gari Jaiser betreut die Beratungsstelle für wohnungslose queere Personen. Die gibt es erst seit knapp zwei Jahren. Seit letztem September hat der Verein sogar zwei WGs. Gari Jaiser steht vor dem Bücherregal in der Bibliothek des Zentrums, kramt ein Buch nach dem anderen raus und überschlägt sich vor Geschichten: "Die sagen dann in den Einrichtungen: Wir gehen einfach nach dem, was im Ausweis steht oder nach dem, was uns unser Auge sagt."

Nur 20 Stunden pro Woche: Beratungsstelle für queere wohnungslose

Bei Gari Jaisers WGs ist das anders. Acht Personen können dort leben. Die müssen zwar über 18 Jahre alt sein, bleiben dürfen sie jedoch so lange sie wollen oder eben bis sie wieder auf eigenen Beinen stehen. Auch wenn das im Moment bedeutet: "Wir sind voll." Und auch wenn noch mehr Personen, Gari Jaisers Hilfe in Anspruch nehmen möchten: Die Beratung der Unterkünfte, die Sprechstunde für queere Personen und die Betreuung der WGs, das muss alles in eine Teilzeitstelle passen. 20 Stunden die Woche.  

Spezielle Hilfe meistens an der Finanzierung gescheitert

"Bei queeren Personen ist es so, dass die besonders vulnerabel dafür sind", sagt Gari Jaiser und meint die Wohnungslosigkeit. Zu den üblichen Risikofaktoren, wie zum Beispiel die Kündigung der Wohnung oder des Jobs, kommen laut Jaiser nämlich noch psychische Belastungen hinzu. "Dann hast du aber auch queere Leute, die wegen der Queerness zu Hause rausgeschmissen werden, wenn sie sich outen", sagt Jaiser.  

Von den Eltern rausgeschmissen nach dem Outing – ein Szenario, das Michael Glas seit Jahrzehnten immer wieder begegnet. Er ist Geschäftsführer des Vereins Fliederlich, den es bereits seit dem Jahr 1978 gibt, damals noch als "Schwulengruppe", lacht Glas. Er habe immer wieder versucht, eine Notschlafstelle für queere Personen einzurichten, aber "es ist meistens an der Finanzierung gescheitert", erzählt er. Der Grund, warum es nun geklappt hat, sei der queere Aktionsplan der Stadt Nürnberg – als einzige Stadt in Bayern. "Das hat natürlich in der ganzen Stadtverwaltung eine bestimmte Sensibilisierung hervorgerufen." Nürnberg hat damit eine gewisse Vorreiterstellung – nicht nur in Bayern, auch im Bundesgebiet. Nur in Berlin gibt es ähnliche Initiativen.  

Queerfeindlichkeit in der Wohnungslosenhilfe 

Dabei ist das Problem bekannt: Bereits 2020 führte die Landeshauptstadt München eine Umfrage unter Fachkräften im Bereich der Sozialen Arbeit durch. Im Bericht "LGBTI* in der Wohnungslosigkeit" heißt es: "Die Studie hat ergeben, dass in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe LGBTI*-Feindlichkeit in deutlich wahrnehmbaren Maß auftritt.  Gleichzeitig wird deutlich, dass die Einrichtungen hierauf nicht ausreichend vorbereitet sind."

Diskriminierung, die sowohl von Mitbewohnenden als auch Mitarbeitenden kommt, fügt Gari Jaiser hinzu. Es kann schon ausreichen, dass eine weiblich gelesene Person zu kurze Haare hat, eine männlich gelesene lackierte Fingernägel. Oder Menschen stören sich daran, dass jemand schwul oder lesbisch ist – alles potenzielle Auslöser für gewaltvolle Übergriffe und Ausgrenzung.  

Nach mehr als 50 Jahren: Aus Henrike wird Richard 

Für Richie Steeger war das Grund genug, sich nicht zu outen: "Die psychische Gewalt, die physische Gewalt, das ist absolut grausam", erinnert er sich. Heute nimmt Richie keine Drogen mehr. Aus seiner Hosentasche zieht er sein Handy und zeigt ein Bild. Sein letzter Drogentest. Eine weiße Plastikkarte mit roten Streifen – es ähnelt einem Corona-Test. "Ich muss das regelmäßig machen mit meiner Gesprächstherapeutin", erzählt Steeger.  

Die Therapie ist ein Teil von Richie Steegers Transformation zum Mann. Gerade wartet er noch auf einen OP-Termin. Und noch ein wichtiges Ereignis steht schon nächste Woche bevor: "Ich will endlich meinen richtigen Namen eintragen lassen", freut sich Richie, "anstatt Henrike heiß ich dann Richard." Mehr als 50 Jahre hat es bis zu diesem Schritt gedauert. Und noch ein Vorhaben steht auf Richies Liste: "Wenn meine erste OP geschafft ist, wo meine Brüste wegkommen, ziehe ich mir nur ein T-Shirt an und reiße mir das mitten am Hauptmarkt vom Leib."