Meinung: Eurovision Song Contest Trotz der grauenhaften Musik feiern wir den ESC
Am Eurovision Song Contest führte dieses Jahr kein Weg vorbei. Der Wettbewerb war politisch so aufgeladen wie selten. Doch obwohl die musikalischen Beiträge kaum zu ertragen waren, gibt es einen Aspekt, den man feiern sollte.
Es gibt rund 400 Ursachen für Tinitus, sagt die Wissenschaft. Hämmern, Quietschen und Pochen im Ohr können durch Stress, Verspannungen oder geschädigte Nervenzellen hervorgerufen werden. Samstagabend war ich sicher: Es sind eigentlich 401. Denn ich habe den Eurovision Song Contest gesehen. Und gehört. "YAAAAAAAAAAAAAAAH", schreit Bambie Thug ins Mikrofon. Gut, immerhin kann es jetzt nicht mehr schlimmer kommen, denke ich um 21:55 Uhr vor dem Fernseher. Doch das ist erst der Anfang.
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Bambie Thug - Doomsday Blue (LIVE) | Ireland 🇮🇪 | Grand Final | Eurovision 2024
Von "Lalalai" über "Rim Tim Dagi Tim" bis "Ramdidamda"
Der irische Beitrag, "Doomsday Blue" von Bambie Thug ist nur eines von vielen musikalischen Verbrechen des ESCs. Noch absurder wird es, als der armenische Beitrag "ertönt". "Jahu. Lalalai. Lalala" trellern sie ins Mikrofon, dicht gefolgt vom kroatischen Beitrag, der schon ein paar mehr Vokale und Konsonanten drauf hat. "Rim Tim Tagi Dim", singt der Künstler namens Baby Lasagna. Das Pochen und Hämmern, es wird stärker. Ich denke kurz daran, dass Vincent van Gogh sich wegen eines Tinitus vor Verzweiflung das Ohr abgeschnitten hat. Besonders stark werden meine selbstzerstörerischen Gedanken nochmal zum Schluss, als Kaleen die Bühne betritt. Der österreichische Beitrag zum ESC präsentiert eine Botschaft, so mitreißend wie das Warten auf den Schienenersatzverkehr während einer S-Bahn Stammstreckensperrung. Sie singt: "Ramdidamda. We will Rave."
Pseudo-Politik beim Eurovision Song Contest
Und dann dieses ganze pseudo-politische Tamtam, dass den ESC schon seit Jahren begleitet. Dieses Mal ist es wegen des Kriegs im Nahen Osten besonders schlimm. Es gibt Buhrufe gegen eine Zwanzigjährige israelische Sängerin. Künstler*innen, die sich mit Palästinenser Tuch inszenieren, Greta Thunberg, die wegen der Teilnahme Israels gegen den ESC demonstriert und dann abgeführt wird. Einen Holländer, der wohl eine Kamerafrau bedroht hat. Geht es hier überhaupt noch um Musik? Um Eskapismus, für das der ESC und das Schlager-Genre mal standen? Oder will sich jeder nur noch positionieren und profilieren? An einer Stelle raunt der Kommentator Thorsten Schorn unfreiwillig, aber passend: "Das bedeutet Weltuntergang, und der steht uns jetzt musikalisch bevor."
Warum überhaupt einen Musikwettbewerb anschauen?
Na gut, was habe ich überhaupt erwartet? Den ESC finde ich als Konzept ja schon absurd. Warum soll man Musik überhaupt bewerten? Warum über Kunst urteilen? Den meisten Musiker*Innen ist ein Wettbewerb mit anderen ohnehin fremd. Und ja – bestimmt hat manch einer auch seinen Spaß mit "We will Rave", Freitagabend am Ostbahnhof beim Warten auf den Bus. Aber noch absurder wird es, wenn Musiker*innen im Namen einer Nation antreten müssen. Gerade in einer Zeit, in der sich Staaten wieder bekriegen. Da wird das Pochen und Quietschen im Ohr immer lauter.
Ein Grund, den ESC doch zu feiern
Aber dann ist am Samstagabend doch noch etwas ziemlich Cooles passiert. Denn gewonnen hat Nemo aus der Schweiz. Und das völlig zu Recht. Noch besser: "The Code" war nicht nur der am wenigsten schwer zu ertragende Song inmitten der Kakophonie. Nemo ist auch die erste nicht-binäre Person, die jemals den ESC gewonnen hat. Erst denke ich: Na, toll: Noch ein politisch progressiver Pseudo-Punkt auf der Eurovision-Bucketlist, den man jetzt abhaken kann. Wieder was Außergewöhnliches, womit sich gut Schlagzeilen machen lässt. Barbie-mäßiges Queerwashing jetzt auch beim Eurovision Song Contest. Aber in dieses Schema passt Nemos Sieg eigentlich nicht. Denn in "The Code" geht es um die Freude daran, queer zu sein. Das sagt Nemo auch im Interview beim Eurovision Song Contest. Es gehe darum, sich wohl zu fühlen in der eigenen Haut und glücklich zu sein mit der Person, die man nun mal ist.
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Nemo - The Code (LIVE) | Switzerland🇨🇭| Grand Final | Eurovision 2024
Mehrheit für queeres Empowerment
Das Schöne am Sieg ist aber vor allem, dass die Mehrheit der Zuschauer und die Fachjurys für Nemo und für dieses Empowerment gestimmt haben. Was also passiert ist: Ein in großen Teilen vermutlich heteronormatives und nicht-queeres Publikum sagt: Wir finden cool, was du, Nemo, da machst. Wir unterstützen dich, dein Beitrag hat uns am besten gefallen. Gerade jetzt ist das ein unglaublich wichtiges Zeichen. Denn noch vor ein paar Monaten stellte die Mitte-Studie der Friedrich Ebert Stiftung fest, dass queerfeindliche Einstellungen in der Gesellschaft zunehmen. Es hieß darin: "17 Prozent machen die Identität von Trans*Menschen verächtlich und rund 11 Prozent fordern, Frauen sollen sich wieder mehr auf die Rolle als Ehefrau und Mutter besinnen."
ESC als Zeichen gegen den konservativen Backlash
Gut, dass die Mehrheit bei diesem Backlash nicht mitgehen will. Und zeigt, dass sie lieber für eine freie Gesellschaft steht, in der sich jeder so entfalten kann wie er möchte und Menschen für ihre Identität nicht angegriffen oder diskriminiert werden. Und Nemo selbst hat am Ende – wenn auch unabsichtlich – dann sogar noch den Eurovision-Pokal kaputt gemacht. Und angedeutet, dass auch diesem Wettbewerb ein paar Neuerungen nicht schlecht täten. Das Pochen und Quietschen im Ohr… langsam lässt es wieder nach.