"Cute Accelerationism" Wie uns Niedlichkeit in eine freie Zukunft führen könnte
Cute aussehen, klingen und auftreten ist hoch im Kurs. Die Autor*innen Maya B. Kronic und Amy Ireland haben die Niedlichkeit zur nächsten Utopie erkoren, in der durch implantierte Hasenohren und hochgepitchter Stimme die Grenzen der Gesellschaft und Geschlechter gesprengt werden.
Stellt euch eine Zukunft vor, in der alles extrem niedlich ist. Alles auf der Welt lässt einen frohlocken, weil es so süß ist. Alle, egal welches Geschlecht, wollen die größten und schillerndsten Augen haben und ziehen sich Maiden-Outfits an, also stereotypische Kindermädchenkleidung. Ein paar Menschen haben sich bunte Katzenohren implantieren lassen, um NOCH süßer zu wirken. Manche denken sogar darüber nach, ihre Hände durch große tapsige Pfoten zu ersetzen. Wäre das in eurer Vorstellung eher eine Dystopie oder eine Utopie?
Eine niedliche Philosophie
Für die australische Autorin Amy Ireland ist diese Frage nicht so einfach zu beantworten. Niedlich sein sei „Teil eines offenen Veränderungsprozesses“, bei dem man nicht wisse, wohin es führt. Sie besitzte die Macht, jemanden komplett weg von Tradition, Geschlecht und der klassischen hierarchischen Struktur zu führen.
Ziemlich viel für ein klein bisschen Nettigkeit. Aber eben weil sie erst so oberflächlich wirkt und trotzdem viel dahinter steckt, hat Ireland zusammen mit Philosoph*in Maya B. Kronic ein Buch über "Cute Accelerationism" geschrieben. Dahinter versteckt sich die Idee, wie eine maßlose und posthumane Ausbreitung der Cuteness weitergedacht werden kann. Denn in der Niedlichkeit sieht Maya B. Kronig eine große Chance für die Philosophie.
"Cuteness ist ein richtig interessantes Beispiel dafür, was es heißt, ein Mensch zu sein. Was sich auch immer wieder verändert. Durch die Umwelt, durch Technologie, durch Bilder…all die Dinge, die sich verändern, je nachdem, wie wir damit interagieren und wie wir uns selbst verstehen."
– Maya B. Kronig über das Potential von Cuteness in der Philosophie
Bist du schon Kawaii?
Cuteness gibt es quer über den Globus, eine besondere Rolle hat sie aber im asiatischen Raum. Unter dem Stichwort Kawaii vereinigt sich zum Beispiel eine ganze Bewegung. Kawaii ist eigentlich einfach nur japanisch und bedeuted niedlich – oder eben cute. Wenn man sich Kawaii anzieht, dann in möglichst flashigen Farben und vielen Accessoires, wie zum Beispiel Katzenohren-Haarreifen.
Wenn man Kawaii aber in Tiktok eingibt, dann erwarten einen tanzende junge Frauen – oder auch Männer – mit aufwändigen Kostümen oder sogar mit Kontaktlinsen, die die Augen vergrößern sollen. Oder es wird gleich ein ganzer Filter drübergelegt und man besteht aus einer Anime-Figur. Diese besondere Art der Cuteness gibt es auch in Form von Musik, sogar auf Deutsch.
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Kawaikute Gomen (German Ver.) | Jinja Cover
Ein Tiktok-Filter kann mehr sein, als man denkt
Wenn Menschen nun einen Filter nutzen, um sich Hundewelpen-Ohren oder ein anderes Geschlecht überzustülpen, dann zeigen sie ein andere Version von sich. Und genau so schaffen sie sich laut Amy Ireland eine Art Mikrowelt, in der sie dann vor allem auf Social Media bestärkt werden können.
Die beiden Autor*innen sind vor allem durch die Transgender-Kultur auf diese befreiende Wirkung der Cuteness gestoßen. Durch die sozialen Netzwerke versuchen gerade Menschen, die einen außerordentlichen Wandel im Leben durchmachen, so ein Feedback für ihre Transformation zu bekommen. Für die beiden Autor*innen lässt Cuteness jegliche Grenzen zwischen dem herkömmlichen binären System von Männlich und weiblich verschwimmen.
Weiter gedacht als die Kritiker*innen
Aber es wollen nicht alle niedlich sein. Vor allem autoritäre und rechte Stimmen sehen in der Cuteness Verweichlichung und Schwäche. Sie sehen in Niedlichkeit eine profane weibliche Qualität im Gegensatz zur männlichen Größe und Erhabenheit. Aber auch von progressiver Seite wird Cuteness abgestempelt, als Kitsch und Kultur einer niederen Bildungsklasse. So beklagt es die Autorin Annekathrin Kohout in ihrem Artikel über die neue Rolle von Cuteness in der bildenden Kunst. Auch weil sich der Kapitalismus die Niedlichkeit aneignet, um möglichst viel Cuteness zu verkaufen.
Aber genau darin sieht Maya B. Kronig Potenzial. Denn auch wenn der gegenwärtige Zustand der Cuteness all das beinhaltet, so könnte sie in der Zukunft für noch viel mehr stehen. Sie könne dazu verwendet werden, die „Verformbarkeit des Körpers und der eigenen Präsentation zu entdecken.“
Erschaffe deine eigene cute Fiktion!
Die beiden Autor*innen wollen zeigen, wie eine junge Generation es geschafft hat, die sozialen Normen auf eine ganze neue Weise über den Haufen zu werfen, vor allem in Genderrollen. Laut ihnen wäre eine Zukunft mit Hasenohren vielleicht sogar eine, die mehr Freiheit verspricht. Und somit sehr viel utopischer, als gedacht.
Ihr Buch richtet sich gegen die Autoritäten, die einem das Geschlecht und die Identität absprechen wollen. Die einem vorgeben wollen, was real ist und was nicht. Laut Kronig und Irelands ist es die Cuteness, die einen angeblichen Unterschied zwischen dem Trivialen und Wichtigen, dem Natürlichen und Kulturellen aufhebt und diesen Unterschied angreift. Oder anders gesagt: Wer sich Katzenohren implantieren lässt, der scheißt drauf, in welches Geschlecht man eingeordnet wird.
Und damit ist Cuteness eine ganz eigene Form von Punk. Nur das anstatt Härte und Aggressivität, das Weiche und Sanftmut benutzt werden - für alle Geschlechter. Smash the Patriarchy war gestern, cuddle it down heißt es morgen!
"Cute Accelerationism" ist in englischer Sprache bei Urbanomic Media erschienen und kostet 23,65 Euro.