BR Fernsehen - Gesundheit!


151

Diabetes, Adipositas Abnehmen mit der Spritze

Fast zu schön, um wahr zu sein: Diabetes behandeln und abnehmen - nicht durch Sport oder Diäten, sondern mit einer wöchentlichen Spritze. Neue Wirkstoffe machen das möglich. Mediziner sehen darin Chancen im Kampf gegen Diabetes und Adipositas. Wie funktionieren die Medikamente und welche Nebenwirkungen haben sie?

Von: Bernd Thomas

Stand: 09.10.2023

Diabetes, Adipositas: Diabetes: Abnehmen mit der Spritze

Seit 20 Jahren ist Henning Auer Diabetespatient. Für ihn ist heute wahr, wovon andere nur träumen: Abnehmen ohne Diäten oder schweißtreibenden Sport, sondern – mit einem Medikament. Es enthält den Wirkstoff Semaglutid. Das spritzt er sich unkompliziert einmal wöchentlich ins Bauchfett.

"Das geht ganz einfach. Ich habe angefangen mit 99 Kilo und bin jetzt bei meinem geringsten Gewicht von 82 Kilo."

Henning Auer, Diabetespatient

GLP-1 Rezeptoragonisten: neue Wirkstoffklasse mit Potential

Der Wirkstoff Semaglutid gehört zu den verhältnismäßig neuen, sogenannten GLP-1 Rezeptoragonisten. Für Ärzte wie Prof. Robert Ritzel, Chefarzt der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie der München Klinik Bogenhausen und Schwabing, sind die neuen Medikamente ein Meilenstein.

"Man kann wirklich sagen, das ist ein Durchbruch. Denn das Ausmaß der Wirkung haben wir so vorher mit anderen Medikamenten nicht gesehen."

Prof. Dr. med. Robert Ritzel, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, München Klinik Bogenhausen und Schwabing  

GLP-1 Rezeptoragonisten: neue Wundermittel?

Schon seit Mitte der 2000-er Jahre sind GLP-1 Agnosten in den USA zugelassen. In Deutschland ist Semaglutid als Diabetesmedikament seit 2018 auf dem Markt und seit 2022 auch als Adipositasmedikament zugelassen. Es lässt bis zu 16 Prozent des Körpergewichts schmelzen. Sogar noch deutlich mehr, bis zu 25 Prozent, sind beim ebenfalls 2022 zugelassenen Wirkstoff Tirzepatid möglich. Der ist eine Weiterentwicklung der bisherigen Stoffe und setzt nicht nur auf GLP1 sondern zusätzlich auf das GIP-Hormon. Die Kombination wirkt nochmals effektiver gegen Adipositas. Noch ist nicht klar, was genau diese Wirkung ausmacht. Zugelassen ist er, im Gegensatz zu Semaglutid, in Europa bisher nur zur Diabetes-Behandlung, aber zu Zeit noch nicht lieferbar.

Mehrere positive Wirkungen

Vor zwei Jahren engleisten Henning Auers Zuckerwerte. Nachdem er den GLP-1-Wirkstoff verschrieben bekommen hatte, normalisierten sie sich in wenigen Monaten. Für den Endokrinologen Professor Robert Ritzel liegt der Wert des Medikaments nicht in erster Linie im Gewichtseffekt, sondern der Wirkung insgesamt.    

"Für mich als Arzt ist entscheidend, dass die Medikamente verschiedene Wirkungen vereinen: neben dem Gewichts- auch den Blutzuckereffekt. Und was wir ja erst seit wenigen Jahren wissen und was besonders wichtig ist: auch einen Gefäßschutz. Sie senken das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und zum Beispiel auch Durchblutungsstörungen in den Beinen."

Prof. Dr. med. Robert Ritzel, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, München Klinik Bogenhausen und Schwabing   

Inkretinmimetika: Wirkung wie Darmhormone

Die Medikamente bestehen aus Strukturen, die an die Rezeptoren sogenannter Inkretinhormone im Körper andocken und damit deren Wirkung verstärkt auslösen können. Sie gehen zurück auf Forschungen der letzten Jahrzehnte. Prof. Robert Ritzel war selbst daran beteiligt. Anfang der neunziger Jahre schrieb er seine Doktorarbeit über das Darmhormon GLP-1.

Inkretineffekt: Steuerung von Blutzucker und Appetit

GLP-1 gehört zu den Hormonen, die den Inkretineffekt steuern. Essen wir, nehmen wir Zucker auf. Danach werden Hormone wie GLP-1 und auch das Hormon GIP vor allem vom Dünndarm ausgeschüttet. Sie aktivieren spezielle Rezeptoren der Bauchspeicheldrüse, die dann mehr Insulin erzeugt. Der Blutzuckerspiegel sinkt und stabilisiert sich.
Aber auch im Gehirn gibt es Rezeptoren für die Hormone. Damit wird gesteuert, wann wir uns satt fühlen - und so das Körpergewicht insgesamt. Grundsätzlich gilt: Sind wir zu dick, wird Glucose von Zellen schlechter aufgenommen. Nehmen wir ab oder haben normales Gewicht, geht das viel besser.

Häufigste Nebenwirkung der GLP-1 Rezeptoragonisten: Übelkeit und Erbrechen  

In den Medikamenten sind die Wirkstoffe rund zehnmal konzentrierter als im Körper. Häufig treten Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und etwas seltener auch Verstopfung auf. Um das zu vermeiden, wird die Dosis nach und nach langsam erhöht. Gegen Adipositas werden mitunter deutlich höhere Dosierungen als in der Diabetestherapie eingesetzt.  

GLP-1-Wirkstoffe: Mögliches Risiko für Schilddrüsenkrebs?

Aktuell läuft ein Verfahren der europäischen Arzneimittelbehörde EMA zu einem möglicherweise erhöhten Risiko für seltenen Schilddrüsenkrebs durch GLP-1 Agonisten. In den nächsten Wochen sollen Ergebnisse dazu bekannt werden.
Aus Tierversuchen weiß man, dass durch GLP-1 Rezeptoragonisten Schilddrüsenkrebs entstehen kann. Allerdings: Im Gegensatz zu Ratten und Mäusen gibt es in der menschlichen Schilddrüse keine GLP-1 Rezeptoren, erklärt Prof. Robert Ritzel. Aber Zulassungsstudien umfassen maximal einige zehntausend Probanden, nach der Zulassung werden Medikamente von Millionen Menschen eingenommen. Deshalb werden alle Medikamente kritisch begleitet, im Zuge der so genannten Pharmakovigilianz.
In den 90-er Jahren war Robert Ritzel selbst an den ersten Forschungen zu den GLP-1 Medikamenten und deren Wirkungen beteiligt. Seine Einschätzung:

"Im Moment gibt es keinen Hinweis für ernste Nebenwirkungen. Die Zahl der Patienten ist ja mittlerweile weltweit sehr hoch. Die Register würden das aus meiner Sicht erfassen. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht trotzdem zu sehr seltenen Erkrankungen wie zum Beispiel Schilddrüsenkrebs kommen könnte. Deshalb muss man aufmerksam bleiben. Das ist ein Medikament. Es sollte nur in ärztlicher Begleitung eingesetzt werden. Ich weiß, dass ist nicht immer der Fall, aber das ist eine Grundvoraussetzung."

Prof. Dr. med. Robert Ritzel, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, München Klinik Bogenhausen und Schwabing   

GLP-1 Rezeptoragonisten: Keinen Appetit mehr

Christoph Bereuter hat Prädiabetes und starkes Übergewicht. In den letzten Jahren nahm er jedes Jahr rund fünf Kilogramm zu. Das wollte ändern. Eine OP zur Magenverkleinerung schied für ihn aus, deshalb setzt er auf die Spritze zum Abnehmen. Der Effekt: 

"Man hört einfach schneller auf zu essen. Also wenn man von früher gewöhnt ist, große Teller oder Portionen zu essen, dann unterstützt einen das. Du sagst Dir nach der Hälfte des Tellers: Eigentlich langt´s. Und das führt dazu, dass Du nicht weiter isst. Das gilt auch für den Abend: Auf der Couch, vor dem Fernseher hast Du gar keine Lust, Dir etwas zum Naschen oder Knabbern zu holen. Das hilft enorm."

Christoph Bereuter

Die Spritze zum Abnehmen: Motivation für ein neues Leben

Die Medikamente bekommt er im Rahmen eines einjährigen Adipositas-Kurses in der München Klinik Bogenhausen. Das Ziel ist, sie nach einigen Monaten wieder abzusetzen. Entscheidend für den Erfolg dabei ist, den bisherigen Lebensstil grundlegend zu ändern.

"Wichtig ist es, dass die Medikamente mit Lebensstilmaßnahmen wie gesunde Ernährung und viel Bewegung ergänzt werden. Dann ist natürlich die Wirksamkeit besser. Und erste, kurzfristige Erfolge können bei den Patienten ganz neue Motivationsschübe auslösen. Und das ist der Schlüssel, nach dem wir suchen. Denn dann brauchen wir bei Adipositaspatienten das Medikament nach einiger Zeit vielleicht gar nicht mehr und haben eine Chance, dass sie ein niedrigeres Gewicht halten. Bei Patienten mit Typ 2 Diabetes ergeben sich natürlich zusätzlich auch Chancen, weil man bei niedrigerem Gewicht vielleicht auch andere Medikamente einsparen kann."

Prof. Dr. med. Robert Ritzel, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, München Klinik Bogenhausen und Schwabing

Gelingt die Lebensstiländerung, lässt sich Diabetes verhindern, effektiver behandeln, das Körpergewicht senken und vor allem auch langfristig halten. Um das zu erreichen, lernt Christoph Bereuter, was eine ausgewogene und gesunde Ernährung ausmacht, welche psychologischen Faktoren ihn beim Ab- und Zunehmen beeinflussen und wieder mehr Bewegung in seinen Alltag zu bringen. Inzwischen treibt er regelmäßig Sport und hat seine Ernährung umgestellt. Unterstützt von den Medikamenten ist er heute schon über 35 Kilo leichter, ein vollkommen neues Lebensgefühl und eine große Motivation. Dass er das Medikament bald wieder absetzen soll, findet er gut, Sorgen hat er keine:

"Ich bin froh, dass ich die Blutdruckmedikamente abgesetzt habe und die anderen Medikamente runter sind. Da möchte ich das nicht einfach ersetzen durch ein anderes Medikament. Und es muss einfach auch dauerhaft im Leben funktionieren, ohne dass man ein Medikament nimmt."

Christoph Bereuter

Diabetes: Risikofaktor Adipositas

Diabetologe Robert Ritzel sieht in den neuen Medikamenten auch eine Chance für die Behandlung von Menschen mit starkem Übergewicht. Denn viele erkranken im Laufe ihres Lebens an Diabetes.

"Circa 80 bis 90 Prozent der Patienten mit Diabetes haben mindestens Übergewicht oder eine Adipositas. Und das ist ja nicht nur ein Problem für den Blutzucker, sondern eben auch für viele andere Organe mit oft fatalen Folgen."

Prof. Dr. med. Robert Ritzel, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, München Klinik Bogenhausen und Schwabing

GLP-1 Rezeptoragonisten: Kosten und Erstattung

Die Krankenkassen übernehmen die Kosten von rund siebzig bis achtzig Euro pro Monat für den Wirkstoff Semaglutid bisher nur bei der Behandlung von Diabetes, nicht bei Adipositas. Das müssen die Patienten selbst bezahlen. Der Preis für das Adipositas-Medikament ist zudem mehr als doppelt so hoch wie das für Diabetes. Übergewicht gilt als Folge des individuellen Lebensstils und nicht als Krankheit. Ein Problem in Bezug auf eine mögliche medikamentöse Therapie ist außerdem die hohe Zahl von rund 16 Millionen adipösen Menschen in Deutschland. Die Kosten insgesamt wären immens.

Keine günstigen Konkurrenzprodukte in Sicht

Mit günstigeren Konkurrenzprodukten ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen, denn die Medikamente zählen zur Gruppe der so genannten Biosimilars. Ähnliche Wirkstoffe müssen genauso aufwändig entwickelt, hergestellt, getestet und geprüft werden wie die jetzt schon verfügbaren Medikamente. Das schlägt sich in einem ähnlich hohen Preis nieder. Sollte sich bestätigen, dass die Wirkstoffe keine gefährlichen, seltenen Risiken und Nebenwirkungen haben, stünde zumindest medizinisch einem breiten Einsatz nichts im Wege.

"Im Moment zeichnet sich ab, dass sich diese Substanzklasse der GLP-1 Rezeptoragonisten mittelfristig zu Blockbuster-Medikamenten entwickeln und dann ganz ähnlich eingesetzt werden könnten, wie vielleicht ACE-Hemmer bei Bluthochdruck oder Statine bei erhöhten Cholesterinwerten."

Prof. Dr. med. Robert Ritzel, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, München Klinik Bogenhausen und Schwabing

Schon jetzt hat sich die Entwicklung für die Hersteller gelohnt. Die Wirkstoffe entwickeln sich zum Milliardengeschäft und die Bewertungen der Unternehmen selbst sind stark gestiegen.      

GLP-1 Agonisten: keine Lifestyle-Medikamente

Allerdings sind und bleiben GLP-1 Rezeptoragonisten Medikamente, die in Europa ärztlich verordnet werden müssen. In den USA werden sie inzwischen von vielen als Lifestyle-Medikamente genutzt, oft ohne ärztliche Begleitung. Der Wirkstoff ist dort leicht zu bekommen, auch wenn der Preis rund zehnmal höher liegt als in Deutschland. Robert Ritzel sieht das kritisch. Denn Patienten müssen über die bekannten Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen und Durchfall aufgeklärt werden. Bei Bedarf muss von ärztlicher Seite entsprechend reagiert werden können. Es gibt, so der Experte, immer wieder Patienten, für die die Wirkstoffe nicht infrage kommen. Außerdem sollten die Medikamente - soweit möglich - nur vorübergehend eingenommen werden. Werden sie abgesetzt, besteht die Gefahr, die positiven Effekte wieder zu verlieren. Um einen nachhaltigen Erfolg zu sichern, soll nach geeigneten weiterführenden Therapien und Programmen geforscht werden.

Diabetespatient Henning Auer benötigt das Medikament auf Dauer. Er hat sich darauf eingestellt und hofft, dass die aktuellen Lieferschwierigkeiten aufgrund der noch begrenzten Produktionskapazitäten und der hohen Nachfrage bald überwunden sind. Denn sein Leben hat sich positiv verändert.  

"Eine Riesenlebensqualität habe ich jetzt. Also früher, Sie hätten mich jetzt hier im Schweiße meines Angesichts gesehen, jede Bewegung hat mich fertiggemacht, das ist alles weg. Also ich fühle mich fit, gesund, toll."

Henning Auer, Diabetespatient 


151