Corona, Teil-Lockdown Kontroverse Diskussion um Corona-Maßnahmen
Auch wenn es nur ein Teil-Lockdown ist: Seit dem 2. November kommt das gesellschaftliche Leben abermals zum Erliegen. Das soll die Ausbreitung von SARS-CoV-2 eindämmen. Einige Wissenschaftler schlagen einen Weg ohne Lockdown, aber mit speziellem Schutz für Risikogruppen vor.
Zwei amerikanische und ein britischer Wissenschaftler veröffentlichten Anfang Oktober in der Great Barrington Declaration ihre Position. Darin entwerfen sie Vorschläge, wie der Pandemie begegnet werden kann, ohne Lockdown, ...
"… um kurz- und langfristige Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit … zu verhindern ..."
Great Barrington Declaration
Damit diejenigen, die ein geringes Sterberisiko im Fall einer Erkrankung an Covid 19 tragen, ein weitestgehend normales Leben führen können, plädieren die Autoren dafür, ...
Außerdem setzen die Verfasser darauf, den Schwellenwert für eine Herdenimmunität innerhalb der Gesellschaft herabzusetzen. Zu den weltweit 600.00 Unterzeichnern gehört auch der der Erlanger Wissenschaftler Prof. Gerhard Krönke, Internist, Immunologe und Rheumatologe. Er sieht das Papier als Diskussionsgrundlage.
"Es geht darum zu überlegen, in welche Richtung man die Ressourcen lenkt, die wir einsetzen, um diese Pandemie zu bekämpfen. Ob es sinnvoll ist, breit zu testen oder ob man die Ressourcen dahingehend fokussiert, die vulnerable Bevölkerung zu schützen. Wir wissen, dass das Virus nicht alle Bevölkerungsteile gleichermaßen betrifft. Prinzipiell haben wir die Möglichkeit, die gesamte Bevölkerung wegzusperren im Rahmen eines Lockdowns oder eben bestimmte Bevölkerungsgruppe besonders zu schützen."
Prof. Dr. med. Gerhard Krönke, Internist, Rheumatologe, Immunologe, Erlangen
Widerspruch und kontroverse Diskussion: Was ist ethisch, notwendig und vertretbar?
Die Vorschläge der Great Barrington Declaration greifen zentrale Probleme auf, etwa die Umsetzbarkeit eines gezielten Schutzes von Risikogruppen oder die möglichen gesundheitlichen Folgen der Corona-Maßnahmen innerhalb der Gesellschaft. Aber sie sind heftig umstritten und stoßen national und international auf Widerspruch. Es gibt inzwischen mehrere Gegenerklärungen, wie das John Snow Memorandum oder die Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie e.v.. Auch der Deutsche Ethikrat lehnt die Vorschläge ab.
"Das Problem ist, dass man sehr berechtigt fragen kann, ob man die sogenannten Risikogruppen tatsächlich schützen kann. Wie würde das aussehen? Würde man diese Menschen wegsperren und in vollständige Isolation geben. Denn, wenn man das nicht macht, das wissen wir aus allen europäischen Ländern und auch aus Deutschland, dass dieses Virus dann auch die Risikogruppen erreicht."
Prof. Dr. med. Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Medizinethik TU München
Schutz gefährdeter Personen: Wie kann das funktionieren?
Wie können die vulnerable Gruppen, zu denen neben alten auch jüngere Menschen mit Vorerkrankungen zählen, konkret geschützt werden? Können Menschen, die wissen, dass sie aufgrund ihres Gesundheitszustandes ein hohes Risiko tragen, einen schweren Krankheitsverlauf zu erleiden und eventuell auch an Covid-19 zu versterben, eigenverantwortlich handeln und sich selbst schützen?
"Die Eigenverantwortung ist aus meiner Sicht gegeben. Risikogruppen, also ältere Menschen, aber auch Menschen mit Immunsuppression wissen, dass sie sich schützen müssen und tun das auch. Wir haben Studien gemacht mit Patienten, die unter Immunsuppression stehen und haben gesehen, dass die Prävalenz, d.h. die Durchseuchung dieser Risikogruppe geringer ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Das zeigt, dass diese Menschen sich effektiv schützen. Isolieren möchte natürlich niemand. Wir wissen aus dem ersten Lockdown, dass das fatal ist und der Gesundheit nicht zuträglich ist, ganz im Gegenteil. Es gibt da mehrere Ansätze, wie man die Bevölkerung sowohl in Pflegeeinrichtungen als auch zuhause besser schützen kann. Neben der hochfrequenten Testung von Pflegepersonal kann man darüber nachdenken, ob man alten Menschen im Rahmen von Besuchen, wenn z.B. die Enkelkinder zu Besuch kommen, nicht noch bessere Schutzausrüstungen gibt, wie FFP2-Masken."
Prof. Dr. med. Gerhard Krönke, Internist, Rheumatologe, Immunologe, Erlangen
Die Eigenverantwortlichkeit vor allem jener Bevölkerungsgruppen, die ein erhöhtes Risiko tragen, schwer zu erkranken, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass der Schutz eben jener Personen praktisch funktionieren kann. Jedoch bezweifeln Experten, dass die Gruppe der vulnerablen Personen so einfach von der Gesamtbevölkerung abzugrenzen ist. Sie umfasst ganz unterschiedliche Personenkreise, gibt Virologin Ulrike Protzer zu bedenken.
"Es gibt natürlich auch eine Reihe ganz anderer Risikogruppen, also ein Risiko ist zum Beispiel Bluthochdruck zu haben, Diabetes zu haben – das haben natürlich auch schon Menschen mit 40 oder 50. Ein Risiko ist, eine Tumorerkrankung zu haben, immun supprimiert zu sein, eine MS zu haben. Das haben viele junge Menschen, die können wir auch nicht alle wegsperren."
Prof. Dr. med. Ulrike Protzer, Virologin, TU München, Helmholtz Zentrum München
Auch Menschen ohne Vorerkrankungen können einen schweren Krankheitsverlauf durch Sars-Cov-2 bekommen. Franz Xaver Ranftl und seine Frau erkrankten im Frühjahr beide an Covid-19. Bei ihr war der Verlauf moderat, er kam nur knapp mit dem Leben davon. Mehr als zwei Wochen lang musste er beatmet werden.
Was ist mit dem Großteil der gesunden Bevölkerung? Hier regt die Great Barrington Declaration an, auf Herdenimmunität zu setzten.
Was ist "Herdenimmunität" und wie kommt sie zustande?
Je mehr Menschen sich mit einem Virus infizieren und dadurch oder durch eine Impfung eine Immunität entwickeln, desto geringer ist das künftige Infektionsrisiko für alle. Die Infektionsrate bewegt sich dann auf einem niedrigen Niveau. So entsteht ein natürlicher Schutz, auch für gefährdete Personengruppen. Eine sogenannte Herdenimmunität hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. WissenschaftlerInnen wie die Münchner Virologin Prof. Ulrike Protzer gehen davon aus, dass für Sars-Cov-2 zwischen 60 und 70 Prozent der Menschen eine Immunität gegen das Virus entwickeln müssen. Das scheint momentan unerreichbar.
Soll also der Infektion freier Lauf gelassen werden? Prof. Ulrike Protzer befürchtet, dass die Vorschläge der Deklaration insgesamt schwerwiegende Auswirkungen haben könnten.
"Man muss dann natürlich bereit sein, eine gewisse Krankheits- und Todesrate in Kauf zu nehmen. Aber bei uns in Deutschland, wir haben eben den Schutz des Lebens auch noch im Alter, und das widerspricht natürlich diesem Vorgehen sehr stark."
Prof. Dr. med. Ulrike Protzer, Virologin, TU München, Helmholtz Zentrum München
Prof. Gerhard Krönke sieht das anders.
"… Es geht nicht darum, dem Virus freien Lauf zu lassen. Im Gegenteil, neben dem Schutz der Risikogruppen geht es sicher auch darum, mit Hygienekonzepten die Ausbreitung des Virus zu verhindern, um den Schwellenwert der Herdenimmunität zu senken, d.h. leichter eine Herdenimmunität zu erreichen."
Prof. Dr. med. Gerhard Krönke, Internist, Rheumatologe, Immunologe, Erlangen
Nach Meinung von Prof. Dr. med. Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, zeige die aktuelle Situation, dass dies momentan keine realistische Möglichkeit ist.
"Freiwilligkeit ist aus ethischer Perspektive zunächst immer der bessere Weg. Aber wir müssen sehen, dass uns die Freiwilligkeit in der Bevölkerung dahin gebracht hat, dass wir uns schon wieder Sorge machen müssen, dass wir vor Weihnachten die Kapazitäten des Gesundheitswesens überschreiten. Und wenn das so aussieht, dann muss man der Freiwilligkeit auch Maßnahmen und Sanktionen zur Seite stellen."
Prof. Dr. med. Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Medizinethik TU München
Leben mit dem Virus
Einig sind sich die Wissenschaftler darin: Das Virus ist da und wird uns voraussichtlich auch in Zukunft noch länger begleiten. Wann eine Impfung kommt und wie wirksam sie sein wird, auch das ist noch nicht klar. Doch je mehr wir künftig über das neue Corona-Virus wissen, desto konkreter können die Maßnahmen angepasst werden.