"Das Gefühl von Armut" Wir sind dem Bürgergeldantrag näher als der ersten Million
Strukturelle Armut ist real – auch wenn sich Friedrich Merz derzeit "mehr Respekt für Besserverdienende" wünscht. Das Leistungsprinzip? Eine Lüge. Deutschland hat ein Klassismus-Problem, wie die Autorin Celsy Dehnert und die Soziologin Saskia Gränitz wissen.
Was gehen uns schon die jährlichen Statistiken über Armut in Deutschland an? Was geht uns schon Gewalt gegen Obdachlose an? Alles schlimm und traurig, aber wir kommen schon irgendwie klar, oder? Warum nicht lieber mal ein bisschen Respekt für Besserverdienende einfordern, wie es Friedrich Merz es sich wünscht?!
Deutschland hat ein Klassismus-Problem. Und wie wir da alle mit drinhängen, das erzählt uns das Buch der Stunde: "Das Gefühl von Armut" von Celsy Dehnert: "Ich habe das Buch geschrieben, weil wir viel zu wenig darüber reden, welche Auswirkungen Armut auf Armutsbetroffene wirklich hat. Und es gibt auch tatsächlich wenig Diskurs darüber, dass Armut am Ende mehr ist als nur der Mangel an Geld. Sondern dass Armut auch Isolation ist. Dass Armut in ganz ganz vielen Strukturen unseres Systems drinsteckt, weil Armut ja schon da anfängt, wo Kinder nicht die gleichen Chancen haben, überhaupt das Beste aus ihrem Leben machen zu können."
Eine Anklage an das System
Celsy Dehnert ist wütend. Und das zu Recht. In ihrem Buch "Das Gefühl von Armut" beschreibt sie, was strukturelle Armut wirklich bedeutet. Strukturell, das klingt immer so abstrakt. Und eigentlich dürfte es strukturelle Armut in unserem Land ja gar nicht geben. Wo doch jeder alles schaffen kann, wenn er nur will. Wenn er nur hart genug arbeitet. Daher hier ein konkretes Beispiel, welche Gesetze strukturelle Armut fördern: Celsy Dehnert lebte – notgedrungen – als Jugendliche in einer Pflegefamilie. Und noch bis vor kurzem sahen die Gesetze so aus, dass Pflegekinder bis zu drei Viertel ihres Gehalts, sei es durch Nebenjobs oder Lehrgeld, an das Jugendamt zurückzahlen müssen. Damit finanzierte der Staat die Unterbringung in der Pflegefamilie. Erst 2023 wurde dieses Gesetz abgeschafft. Da war Deutschland bereits 74 Jahre alt.
"Als ich mit meinem 18. Geburtstag meine Pflegefamilie verließ, hatte ich nichts. Keine Ersparnisse, keine eigenen Möbel, nichts. Denn von dem Pflegekindergeld, das die Familie für mich bekam, wurde nichts für mich angespart."
– Celsy Dehnert in 'Das Gefühl von Armut'
"Der Fehler im System steckt schon darin, dass das System zwar immer von fördern und fordern spricht – aber dass es tatsächlich gar keine echten Rückhaltesysteme gibt, damit Armutsbetroffene oder auch von Gewalt betroffene Kinder und Frauen tatsächlich auf eigene Füße kommen," sagt Dehnert und legt den Finger in die Wunde, die wir in unserer neoliberalen Blase nicht sehen wollen.
Die Armut der anderen
Häusliche Gewalt. Armut. Schulden. Und nun die Frage, was geht uns das an. Denn wir sind doch nicht die, die da auf RTL2 karikiert werden. Wir machen Yoga. Wir sind High Performer mit Klarna-Krediten, die sich von Zwischenmiete zu Zwischenmiete hangeln und nur hoffen können, dass sie in irgendeinem Testament bedacht werden. Wir sind nur eine Kündigung und eine Mieterhöhung vom Klassenabstieg entfernt. Und trotzdem fühlen wir uns dem erfolgreichen Manager näher als dem Obdachlosen. Armut, pardon, "soziale Schwäche", das betrifft uns doch bitte, bitte nicht. Oder? Die Soziologin Saskia Gränitz muss uns leider, leider unsere rosarote Brille abnehmen:
"Man landet auch nicht gleich auf der Straße, aber man landet ganz schnell in prekären Wohnverhältnissen oder in unsicheren Wohnverhältnissen, wo man nicht weiß, ob man den Mietvertrag verliert, das kann sehr schnell gehen. Eine Person, mit der ich gesprochen habe, die hatte 700 Euro Festeinkommen in München im Monat und der Rest war eben auch so kreatives Milieu. Das heißt, wenn wir es uns auf der materiellen Ebene angucken, dann sehen wir da gar nicht so viele Unterschiede. Weil die Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, die obdachlos waren, die haben auch im Tagelohn oder in Minijobs gearbeitet und waren von den Einkommensverhältnissen nicht so weit weg."
Wir haben ein Klassismus-Problem
Und trotzdem grenzen wir uns ab. Nach unten. Die Gewalt gegen Obdachlose nimmt zu. Gewalt gegen Geflüchtete. Gewalt gegen Arme, die angeblich ihr Leben nicht im Griff haben. Wie kommt es, dass wir uns eher über sogenanntem Sozialbetrug aufregen als über Steuerbetrüger mit Schweizer Bankkonten? Saskia Gränitz forscht zu Gewalt gegen Obdachlose und was all das mit Autoritarismus zu tun hat. Sie erklärt es, ganz Frankfurter Schule, so:
"Das ist eine Haltung, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten. Das hat auf anderer Ebene auch schon den Nationalsozialismus befördert, also es hat tatsächlich auch eine politische Dimension, aber es hat auch so eine soziale und ökonomische Dimension, dass man eher das Schwache verachtet. Es ist ein Abwehrmechanismus. Projektion spielt da eine Rolle, aber auch Spaltung."
Nach unten treten – nach oben buckeln
Die Spaltung funktioniert super. Was auch super funktioniert, ist, dass ein und dieselbe Eigenschaft bei armen Menschen problematisch ist, bei anderen aber nicht. Bei den einen nennt man es Sucht. Bei den anderen heißt das Daydrinking. Die einen sind faul und arbeitslos, die anderen haben sich noch nicht gefunden und müssen erstmal ins Ayahuasca-Retreat. Haben wir ein Klassismus-Problem? Die Autorin Celsy Dehnert kann gar nicht laut genug darüber schimpfen, was sie an Diskriminierung in ihrem Leben erfahren musste. In ihrem Buch nennt sie es "Armutspornographie als Instrument der Machterhaltung."
"Das Gefühl von Armut ist vor allem das Gefühl, von unserer Gesellschaft betrogen worden zu sein. Zu diesem Gefühl trägt eben auch der gesellschaftlich etablierte Klassismus bei. Denn all die institutionellen und individuellen Ausfälle hätte ich vielleicht noch verschmerzen können, wenn ich nicht in einer Kultur aufgewachsen wäre, die den Armenhass salonfähig gemacht hat."
– Celsy Dehnert in 'Das Gefühl von Armut'
Heute ist Celsy Dehnert eine erfolgreiche Autorin. Aber ihr Buch "Das Gefühl von Armut" ist kein neoliberaler Motivationscoach, der uns zuruft: Hey! Schau mich an. Auch Du kannst alles schaffen. Wenn Du nur hart genug arbeitest. Mit dem richtigen Mindset, Baby. Nein. Dieses Neoliberale Versprechen entlarvt sie, als das, was es ist: Eine Lüge.
"Es ist wichtig für die Leute zu realisieren, dass sie dem Bürgergeldantrag in der Regel immer näher sind als der ersten Million. Aber der Reflex daraus darf nicht sein nach, unten zu treten, um den Abstand nach unten möglichst größer zu machen. Sondern der Reflex muss sein, die Lebenssituation von Armutsbetroffenen erheblich zu verbessern, so dass wenn ich selber einmal in die Situation kommen sollte, ich weicher falle, als ich es aktuell tue."