Alpine Orte der Kraft Der Mutsbichel bei Vent
Im hintersten Ötztal rund um das Bergsteigerdorf Vent gibt es gleich mehrere alpine Orte der Kraft: Kultfelsen, Schalensteine, Hohle Steine, magische Kreise und vieles mehr.
All das hängt mit der schon vor über 10.000 Jahren erfolgten Besiedlung aus dem Süden zusammen und mit der uralten Ötztaler Schaf-Kultur.
Einer der sich damit bestens auskennt ist Hans Haid: Bergbauer, Dichter, Volkskundler und Querdenker. Sein liebster alpiner Ort der Kraft ist der 2360 Meter hohe Mutsbichel oberhalb des Bergsteigerdorfs Vent – eine wirklich lohnende Kult-Tour! Gut 500 Höhenmeter sind es von Vent auf den Mutsbichel. Ein ganz schmaler, steiler, fast linearerer Steig führt durch dichten und jahrhundertealten Zirbenwald. Eigentlich muss man von einem Zirben-Urwald sprechen, so knorrig und flechtenbehangen sind die Bäume hier – ein echter "gobelin forest" wie man ihn sonst nur in Neuseeland antrifft.
Der Aufstieg ist mühsam für den Körper, die wohlduftende Zirbenzauberwelt aber heilsam für Geist und Seele. Bei jedem Schritt und Schnaufer bergauf strömt das bei der Sommerhitze verstärkt freigesetzte ätherische Öl der Zirben in die Lungen. Ab und zu ruft eine Dohle oder ein Greifvogel, ansonsten ist nur das Rauschen der Bergbäche unten im Tal zu hören – mächtig angeschwollen durch die Gletscherschmelze im Zuge der hochsommerlichen Temperaturen.
Plötzlich tritt man dann heraus aus dem Schatten des Zirben-Urwalds und erblickt die flache Kuppe des Mutsbichels mit seinen Felsen und Schalensteinen. "Mut" bedeutet Hügel, Bichel ebenfalls, also ist der Mutsbichel der "Hügelhügel". Hier oben hat man die drei großen Dreitausender des Ötztals im Blick: Similaun, Weißkugel und Wildspitze – ein grandioses Panorama in absoluter Stille und Einsamkeit. Denn kaum ein Wanderer verirrt sich abseits der frequentierten Hütten- und Gletscherzustiege hier herauf, nur ein paar Haflinger, Kühe und Schafe weiden zwischen den Schalensteinen auf dem 2360 Meter hohen Mutsbichel.
Die Schalensteine sind leicht ansteigend auf den Similaun hin geortet und auf den Marzellferner, der seine ganz eigene Mythologie besitzt. Laut Sage wohnen im Kristallpalast des Marzellferners, genauer gesagt im Gletschertor, die Saligen Frauen, hilfreiche Wesen und zugleich die Herrinnen der Tiere, auch der Schafe, die jeden Frevel an den Vierbeinern rächen.
Der Marzellferner ist aber auch ein Ort der Buße. Hier wohnt die sagenhafte "Kalte Pein", das kalte Fegefeuer, das schon in Dantes Inferno beschrieben wird. Die im Eis Festgefrorenen erleiden die schlimmste aller Strafen. Der Marzellferner ist aber nicht nur Wohnstätte der Saligen und der Kalten Pein, sondern auch ein Ort der Therapie, erklärt der Volkskundler Hans Haid. So hat schon im 19. Jahrhundert ein Südtiroler Arzt schwermütige Patienten vom Vinschgau aus auf den Marzellferner geführt, um sie dort im Eis zu therapieren. Vom Marzellferner zurück zum Mutsbichel und zu den rätselhaften Schalensteinen, deren historische Nutzung noch nicht genau geklärt ist. Möglicherweise waren sie Salzdepots fürs Vieh und wurden durch das Auslecken des Salzes immer mehr eingetieft. Vielleicht wurden sie auch medizinisch genutzt, indem in ihnen Gestein zu heilkräftigen Mineralienstaub zerrieben wurde. Zur Entzündung von Feuern, um zum Beispiel vor dem Ausbruch eines Gletschersees zu warnen, waren die Schalensteine am Mutsbichel eher nicht geeignet, da sie abschüssig liegen und das Öl oder Fett somit ausgelaufen wäre.
Besonders sensible Menschen können die Energie und Kraft am Mutsbichel wahrnehmen, sagt Hans Haid. Er selbst spürt ein unangenehmes Kribbeln, eine Art Frösteln. Den Josef Parter aus Vent dagegen, einen Rutengänger, hat es dagegen oben am Mutsbichel regelrecht umgeworfen, weshalb er sich dann auch geweigert hat, hier herauf zu steigen. Bevor es so weit kommt, ist es wohl besser vom Mutbichel über einen aussichtsreichen Höhenrücken zur Ramolalm weiter zu wandern. Seit diesem Jahr werden die Hänge hier auch wieder von Schafen beweidet und das ferne Bimmeln der Glöckchen begleitet die Tour. Am Höhenweg liegen zudem weitere Schalensteine, die sich dem ungeübten Blick aber schnell entziehen. Unübersehbar rückt dagegen im Talschluss der Similaun immer näher. An der leider verlassenen und verfallenen Ramolalm stößt der Weg dann auf den Zentralalpenweg 02, der über das Ramoljoch hinüber ins Gurgler Tal führt und uns wieder hinab nach Vent.