In Diskussionen über die Gefährlichkeit des Coronavirus taucht wiederholt eine Quelle auf: die Plattform "Swiss Propaganda Research", die kürzlich ihren Namen in "Swiss Policy Research" (SPR) änderte. Neben zahlreichen Akteuren jener Medien, die sich selbst als "alternativ" bezeichnen, bezog sich beispielsweise der mittlerweile freigestellte Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums, der unbeauftragt eine "Analyse" zur Coronakrise verfasste und darin die Maßnahmen als einen "globalen Fehlalarm" bezeichnete, mehrfach auf "Swiss Propaganda Research" und der dort abrufbaren Stoffsammlung zu Covid-19. Auch Verschwörungsideologen wie Attila Hildmann bezogen sich schon auf SPR.
"Swiss Propaganda Research" oder "Swiss Policy Research"?
"Swiss Policy Research" existiert nach eigenen Angaben auf der Webseite seit 2016, der erste Eintrag der Seite im Internet-Archiv (archive.org) ist vom September 2017. Noch bis Mitte Mai nannte sich das Portal "Swiss Propaganda Research".
Dieser ursprüngliche Name war Programm: angebliche Forschung zu "Propaganda". Der oder die Urheber bezeichnen sich selbst als ein "Forschungs- und Informationsprojekt zu geopolitischer Propaganda in Schweizer und internationalen Medien". SPR zielt dabei vor allem auf die etablierten Medien in der Schweiz und in Deutschland - etwa die NZZ, die öffentlich-rechtlichen Sender SRF und ZDF oder auch die Süddeutsche Zeitung oder die Bild.
Einige seriöse Medien diskutierten die Webseite bereits. So hieß es in der Wochenzeitung Die Zeit, "Swiss Propaganda Research" sei ein dubioses Internetportal, das selbst im Verdacht stehe, Propaganda zu betreiben, und die schweizerische Zeitschrift Beobachter schreibt, die Webseite unterstelle einer Vielzahl an Medien - vor allem schweizerischen und deutschen öffentlich-rechtlichen Sendern und etablierten Zeitungen wie der Neuen Zürcher Zeitung oder der Süddeutschen Zeitung - das, was sie selber tue: "die Leser mit fragwürdigen Informationen zu füttern".
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Wer steckt hinter "Swiss Policy Research"?
Auf der Webseite sind weder ein Impressum noch eine Kontaktadresse zu finden. "Ein absolutes Ausschlusskriterium als seriöse Medienquelle", sagt Martin Emmer, Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Mediennutzung am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin. Auch eine Domainabfrage über Whois ergibt keine Auskünfte über den oder die Betreiber der Seite.
Die NZZ vermutete 2018 den Verschwörungsideologen Daniele Ganser hinter der Seite, was dieser aber kürzlich dementierte.
Einer der frühesten Beiträge auf der Seite kritisierte auch die angebliche Diffamierung des bekannten Schweizer Verschwörungserzählers Daniele Ganser, der öffentlich die Untersuchungsergebnisse zu 9/11 in den USA anzweifelt.
SPR stellt in einem Medienspiegel auch einige Artikel vor, die sich kritisch mit SPR befassen - die dann aber meist mit dem Hinweis zum "Kontext" als "Nato-nah" oder "amateurhaft" versehen werden. Viele Artikel stammen von Webseiten bekannter Verschwörungsideologen oder selbsternannten alternativen Medien.
Auf der Seite heißt es, die "Mitglieder der Forschungsgruppe möchten persönliche Diffamierungen und berufliche Sanktionen vermeiden und haben sich deshalb entschieden, nicht namentlich aufzutreten". Eine BR24-Anfrage, ohne dass auf Fragen nach der Zusammensetzung und der Qualifikation der angeblichen Forschergruppe näher eingegangen wäre, wurde ebenfalls anonym beantwortet.
Durch die fehlende Transparenz zur Urheberschaft ist nicht klar, wer für die Inhalte der Seite haftet, wie sie sich finanziert und welche fachliche Qualifikationen sie ausweisen - besonders als "Forscher". Die Gruppe sei aber, so die anonyme Mail-Antwort an BR24, "politisch und publizistisch unabhängig" und erstelle die Arbeit "ohne Beauftragung oder Fremdfinanzierung". Die erfragten Belege dafür lieferte SPR nicht.
Was macht "Swiss Propaganda Research"?
Vor der Corona-Pandemie war das Hauptthema von SPR spekulative Kritik an Medien, die angeblich Propaganda zugunsten der USA und der NATO betrieben. "Studien" und "Infografiken" sollten das belegen.
Experten kritisieren allerdings sowohl die Selbstbezeichnung als Forschungsgruppe als auch deren Arbeitsweise und Auslegung des Propaganda-Begriffs. Die Begriffe "Research" und "Forschungsgruppe" wecken die Erwartung, auf der Webseite wissenschaftliche Informationen zu finden. Diesem Anspruch werden die Inhalte auf der Webseite allerdings nicht gerecht.
"Wenn man das Angebot der Webseite insgesamt betrachtet, wird schnell deutlich, dass sie einer politischen Seite zuzuordnen ist – während sie sich den Anschein der wissenschaftlichen Objektivität und Neutralität zu geben versucht", sagt Christoph Neuberger, ebenfalls Professor am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der FU Berlin.
"Die Inhalte und der Gestus auf 'Swiss Policy Research’ sind pseudowissenschaftlich", sagt Medienforscher Neuberger, der auch publizistische Qualität im Internet lehrt. "Die sogenannten 'Studien' erfüllen an vielen Stellen nicht die wissenschaftlichen Mindeststandards." Für Laien, sagt Neuberger zu BR24, mögen sie auf den ersten Blick eindrucksvoll wirken. Doch seien die Fallzahlen in den Untersuchungen sehr niedrig. "Daraus können keine verallgemeinerbaren Aussagen abgeleitet werden." Zudem sei nicht nachvollziehbar, wie genau die Fragen untersucht wurden – also die wissenschaftliche Methode. Das schließe die Nachprüfbarkeit der Ergebnisse aus. Für Forscher sei so nicht ersichtlich, wie sie die Studien wiederholen könnten.
"Auch eine lange Liste von Quellen bedeutet nicht, dass der Forschungsstand angemessen wiedergegeben ist", sagt Neuberger. Dessen Kollege Emmer weist darauf hin, dass in der sogenannten Studie "Der Propaganda-Multiplikator" zu drei Nachrichtenagenturen die meisten angegebenen Quellen keine wissenschaftlichen Quellen seien. Wo sich die Studie aber auf eine wissenschaftliche Quelle beziehe, würden Aussagen selektiv zitiert und aus dem Kontext gerissen. "Das verzerrt und ist unseriös", sagt Emmer. "Zu dem Thema gäbe es tausende Quellen - die werden alle nicht genannt."
Den Propagandabegriff, der auf der Website verwendet wird, hält der Publizistik-Experte Neuberger dabei für unzulässig weit und undifferenziert. "Es wird alles als 'Propaganda' bezeichnet, was nicht dem eigenen Standpunkt entspricht", sagte er. Journalismus könne gar nicht anders, als auszuwählen und verknappen. "Das ist nicht automatisch mit Propaganda gleichzusetzen."
In SPR sieht Neuberger deshalb ein Beispiel für unfaire Medienkritik. "Der Journalismus ist nicht nur ein passiver Spiegel, der alles wiedergeben muss, was irgendwo irgendjemand behauptet und meint – und sei es noch so abwegig."
Was sagt SPR zu Corona?
Das unwissenschaftliche Vorgehen von "Swiss Policy Research" wird auch bei der Sammlung zu Corona deutlich. "Von Fachleuten präsentierte, vollständig referenzierte Fakten zu Covid-19, die unseren Lesern eine realistische Risikobeurteilung ermöglichen sollen", steht über dem Artikel - einem langen Blogeintrag mit vielen Einzelpunkten und einigen Grafiken. Der wichtige Unterschied zwischen dem Virus SARS-CoV-2 und der Erkrankung Covid-19 wird dabei an vielen Stellen nicht gemacht.
Eigene Forschung zum Virus SARS-CoV-2 betreibt die angebliche "Forschergruppe" nicht, soweit auf der Seite zu Covid-19 ersichtlich wird. Die Urheber tragen Links und Informationen aus verschiedenen Quellen zusammen. Zu den Quellen, auf die verlinkt wird (Stand 5. Juni), zählen einerseits seriöse Studien aus verschiedenen Ländern – andererseits auch selbsternannte alternative Medien wie "Rubikon" oder "offGuardian".
Teil der Sammlung ist auch der offene Brief des emeritierten Professors Sucharit Bhakdi, der zahlreiche nicht belegte Annahmen enthält und suggeriert, die Gefährlichkeit von Corona werde überschätzt. Der Text steht auf SPR ohne Einordnung.
Insgesamt werden vor allem Quellen genannt und Schlüsse gezogen, die die Virus-Pandemie als weniger gefährlich darstellen sollen. "Die Seite ist manipulativ, sie zitiert zum Beispiel vorrangig opportune Zeugen - und macht damit das, was sie den Medien vorwirft", sagt Kommunikationswissenschaftler Emmer.
Die angeblichen "Fakten zu Covid-19" auf SPR werden zudem laufend verändert und überschrieben. Dabei machen der oder die Autoren nicht transparent, welche Änderungen vorgenommen wurden oder weshalb. Dieses Vorgehen entspricht nicht Standards wissenschaftlichen oder journalistischen Arbeitens.
Über das Internet-Archiv archive.org lässt sich die Historie von SPR in Ausschnitten nachverfolgen. Noch vor kurzem hieß es beispielsweise auf der Seite: "Bis zu 50% aller zusätzlichen Todesfälle wurden nicht durch Covid-19 verursacht, sondern durch die Folgen von Lockdown, Panik und Angst." Dazu gibt es jedoch keine handfesten Zahlen und nicht genug Daten, um die Auswirkungen von Corona auf Patienten zu bewerten. Die Prozentangabe "50%" ist laut Einschätzung von BR-Fachredaktion Wissen "sehr gewagt". Mittlerweile schreibt der Autor der Seite zu Covid-19 etwas weniger offensiv: "Zudem ist oftmals nicht klar, ob diese Menschen wirklich an Covid-19 starben oder an hohem Stress, Angst und Einsamkeit." Die Quellen, die dafür angegeben werden, sind keine wissenschaftlichen Artikel und belegen die getroffene Aussage so auch nicht. Dass zuvor eine nicht belegbare Zahl verbreitet wurde, ist nicht transparent gemacht.
"In seriösen wissenschaftlichen Veröffentlichungen gibt es einen Theorieteil, in dem die Entwicklung des Forschungsstands und die Reichweite und Begrenzungen der eigenen Arbeit offengelegt werden", erklärt Emmer.
Ähnliches gilt für den Journalismus. Dieser habe die Aufgabe, sagt Journalistik-Experte Neuberger, Nachrichten und Meinungen kritisch zu prüfen. "Das schließt ein, dass er selbst transparent vorgeht, sorgfältig prüft und sich der Kritik stellt. Aber diese muss fair bleiben und sich an den gleichen Qualitätsstandards orientieren."
Auch aktuell finden sich noch zahlreiche Behauptungen auf der Seite, die nicht von den verlinkten Studien oder dem aktuellen Forschungsstand gedeckt sind.
Auf Detailfragen nach dem Vorgehen von SPR antwortete der anonyme Mail-Absender nicht. Die Vorwürfe der Unwissenschaftlichkeit wies er zurück - jedoch ohne darauf näher einzugehen.
Behauptungen auf SPR zu Corona im Faktencheck
1) Verstorbene hätten im Schnitt noch 11 bis 13 Jahre leben können
An einer Stelle bei SPR heißt es: "Das Medianalter der Verstorbenen liegt in den meisten Ländern (inklusive Italien) bei über 80 Jahren und nur circa 4% der Verstorbenen hatten keine ernsthaften Vorerkrankungen. Das Sterbeprofil entspricht damit im Wesentlichen der normalen Sterblichkeit." Zum Hintergrund: Das Medianalter teilt die Bevölkerung nach dem Alter in zwei gleichgroße Gruppen: 50 Prozent sind jünger und 50 Prozent sind älter als das Medianalter.
In Deutschland lag laut Robert-Koch-Institut der Altersdurchschnitt der im Zusammenhang mit einer COVID-19-Erkrankung Verstorben bei 81 Jahren (Median: 82 Jahre). Dass das Median-Alter der an Covid-19 Verstorbenen über 80 liegt, passt zu den internationalen Daten, die Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung und der Unversity of California sammelten.
"Das heißt aber nicht, dass diese Personen so oder so gestorben wären, was ja bei solchen Aussagen (Anmerkung: Wie bei der des SPR) immer etwas mitschwingt", sagt Christian Dudel vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung. Im Schnitt hätten an Covid-19 Verstorbene ersten Schätzungen zufolge noch etwa 11 bis 13 Jahre Leben können. Dabei werden auch Vorerkrankungen berücksichtigt.
2) Sind Beatmungsmaschinen gefährlich?
Zu Beatmungsgeräten verbreitet SPR folgende Aussagen (Stand 28.5.): "Die Angst vor einer Knappheit an Beatmungsgeräten war unberechtigt. Laut Lungenfachärzten ist die invasive Beatmung (Intubation) von Covid19-Patienten, die teilweise aus Angst vor dem Virus geschah, zudem oftmals kontraproduktiv und schädigt die Lungen zusätzlich."
Thomas Irlbeck, Intensivmediziner am Klinikum Großhadern, sagte dazu: "Es kann während einer Beatmung zu zusätzlichen Infektionen der Lunge kommen." Aber Berichte aus Italien und den USA, wonach Patienten aufgrund der Beatmung häufiger stürben, können die deutschen Spezialisten nicht bestätigen. Im Gegenteil: "Man kann mit großer Sicherheit sagen, dass diese Patienten ohne die Intensivtherapie und ohne die Beatmung die Erkrankung nicht überstanden hätten", sagte Irlbeck.
FAZIT
"Swiss Policy Research" legt weder offen, wer die Seite betreibt noch wer in der angeblichen "Forschergruppe" arbeitet. Dadurch sind weder die Identität der Urheber der Inhalte noch deren Interessen nachprüfbar - was nicht den Standards journalistischer oder wissenschaftlicher Qualität entspricht. Der oder die Urheber geben sich als Forschergruppe aus – jedoch findet sich keine eigene Forschung nach den anerkannten wissenschaftlichen Standards. Sie betreiben selektive Quellenarbeit und verkürzen Studienergebnisse. Stattdessen sammeln der oder die Urheber Links aus verschiedenen, teils nicht vertrauenswürdigen Quellen und ändern ihre Aussagen, ohne die Gründe dafür transparent zu machen. Das entspricht nicht den Qualitätsstandards von Wissenschaft oder Journalismus - ebensowenig wie die als “Studien” bezeichneten Dokumente zur Medienkritik.
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