Die Vorlage der neuen Konzeption der Erinnerungskultur vom Bundeskulturministerium sei eine "Versammlung frommer Wünsche", sagt Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, im BR-Interview. Er zählt damit zu den zahlreichen Stimmen, die scharfe Kritik an Claudia Roths 42-seitigem Rahmenkonzept üben. In dem Konzept heißt es, dass neben dem Gedenken an NS-Zeit, Schoah und die deutsche Teilung drei weitere Felder Pfeiler der Erinnerungskultur werden sollen: der Kolonialismus, die Einwanderungsgesellschaft und die Kultur der Demokratie.
Dieses Papier könne so nicht weiterentwickelt werden, sondern müsse neu aufgesetzt werden, sagt Skriebeleit. Er hat deshalb zusammen mit anderen Gedenkstättenleitern neue Leitlinien entwickelt, die er mit der Kulturstaatsministerin diskutieren will.
Warum die Ampelkoalition die Erinnerungskultur reformieren will
Dass die deutsche Erinnerungskultur modernisiert werden müsse, genauer, dass die Konzeption der Gedenkstätten von 2008 weiterentwickelt werden muss, darauf hatten sich schon vor zwei Jahren SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt. Das allmähliche Aussterben aller Zeitzeugen ist nur ein Grund dafür, dass neue Vermittlungswege gefunden werden müssen, um die Erinnerung an die Schoah wachzuhalten.
Ein anderer ist, dass ein Fünftel der Bevölkerung nicht aus Deutschland stammt und man Wege finden muss, die Geschichte auch für Menschen mit Migrationserfahrung wachzuhalten. Wie, darum streiten sich allerdings die Geister schon lange. Der Vorschlag der Unionsfraktion, KZ-Gedenkstättenbesuche für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend zu machen, stößt selbst in Kreisen der Lehrenden und bei den Leitern der Gedenkstätten auf Widerspruch.
Neues Konzept: Relativierung der NS-Verbrechen?
Dass die Konzepte eines nationalen Erinnerns unter den veränderten Bedingungen erneuert werden müssen, ist eigentlich für alle Seiten unstrittig. Aber die Vorlage aus dem Hause Roth hat eine Welle des Protestes hervorgerufen. Das neue Rahmenkonzept der Grünen-Politikerin macht neben NS-Zeit, Schoah und der DDR-Geschichte die Kolonialverbrechen, die Geschichte der Einwanderungsgesellschaft und der Demokratie zu Säulen der deutschen Erinnerungskultur.
Damit aber relativiere das neue Erinnerungs-Konzept die NS-Verbrechen, wie die Leiter der NS-Gedenkstätten in ihrem Protestbrief monierten. Das sieht auch Jörg Skriebeleit so: "Relativierung ist ein harter Vorwurf, ein Vorwurf, den wir auch tatsächlich aus diesem Papier so rauslesen mussten", sagt er und versichert, dass es den Gedenkstättenleiter, die sich für diesen Protest zusammen getan haben, dabei nicht um unbedingte Zuspitzung gegangen sei. "Gerade das Besondere, Einzigartige der Verbrechen an Orten wie Dachau, Flossenbürg und Auschwitz, Verbrechen, die sich eben nicht nur auf den deutschen Raum beziehen, sind mit den deutschen Kolonialverbrechen, die eine andere Geschichte, eine andere Vor- und Nachgeschichte haben, schwerlich zu vergleichen", so Skriebeleit im BR-Interview.
Staatlich organisierte Verbrechen machen einen Unterschied
Erst recht nicht vergleichbar seien die Verbrechen, die aus der Mitte der Gesellschaft oder aus den Rändern der Gesellschaft hervorgehen – wie der Terror von Rechts, so Skriebeleit. Er spielt damit auf Roths Erweiterung der Erinnerungsorte auf rassistische und antisemitische Anschläge an, etwa die NSU-Morde, der rassistische Anschlag in Hanau oder der rechtsextreme Angriff auf eine Synagoge in Halle. Diesen Unterschied hatte schon Oliver von Wrochem, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in Deutschland, im "Spiegel" [externer Link, möglicherweise Bezahl-Inhalt] betont: Man müsse differenzieren, so heißt es da "zwischen Formen der Gewalt in gesamtstaatlicher Verantwortung und Formen des Terrors von Gruppen oder Individuen".
Linker Terror werde in dem Papier gar nicht erwähnt, bemängelt Skriebeleit und resümiert: "Es ist tatsächlich ein defizitäres Papier, das so nicht weiterentwickelt werden kann, sondern noch mal neu aufgesetzt werden muss". Deswegen hätten die Leitenden der NS- und DDR-Denkstätten nun in einem Brief an die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) Leitlinien formuliert, um zu versuchen, mit dem Ministerium weiter ins Gespräch zu kommen.
Wenige Erinnerungsorte für Kolonialverbrechen
Die darin vorgeschlagenen Leitlinien orientieren sich explizit an der "der alten Gedenkstättenkonzeption des Bundes", so Skriebeleit. Zur Erinnerung: Der Bund hatte 1993 beschlossen, sich an der Finanzierung von Gedenkstätten in den alten und neuen Bundesländern zu beteiligen, an DDR-Gedenkstätten in Bautzen genauso wie etwa an den KZ-Gedenkstätten in Dachau oder Flossenbürg.
Die Förderungsmaßstäbe wurden zwar wiederholt überarbeitet, zuletzt 2008, aber zentral blieb in ihnen die Bindung an die realen Geschehensorte in Deutschland. Oder wie Skribeleit erläutert: Es gehöre zum Begriff der Gedenkstätten, "dass sie sich mit dem Terror, der mit Orten verknüpft worden ist, die weit über Dachau, Flossenbürg, Bautzen hinausgehen, profund auseinandersetzt. Das sind die Tatbeweise, das sind die Orte des Verbrechens. Und dass er vor diesem Hintergrund dann auch neue Themenfelder versucht zu integrieren".
Deutsche Kolonialverbrechen hätten hingegen wenig Erinnerungsorte in Deutschland, auch die deutsche Demokratiegeschichte hätte einen anderen Charakter. Das werde in Roths Papier alles nicht ausdifferenziert. "Das heißt, wir wollen dieses Papier wieder auf die Füße stellen, auf die Füße der Arbeit, aus der wir kommen und die sich auch in diesen Wochen mit den Gedenkfeiern deutlich öffentlich manifestiert", so Skriebeleit.
Kulturstaatsministerium plant Runden Tisch
Die Leitenden der Gedenkstätte sind mit ihrer Kritik an Roths Reformplänen nicht allein. Auch der Historiker Norbert Frei sagt im DLF, das sogenannte Rahmenkonzept komme ihm vor, wie eine "misslungene Seminararbeit", die "alles vermanscht, was mit Erinnerung zu tun hat".
Berichten zufolge plant das Kulturstaatsministerium für Mai einen Runden Tisch zum Thema, die Leitlinien der Gedenkstättenleitenden werden da gewiss eine Möglichkeit zur Differenzierung der deutschen Erinnerungsarbeit bieten. Aber dort werden mit Sicherheit auch andere erinnerungspolitische Akteure mitmischen. Das kann dann zu einem fruchtbaren Gespräch werden, wenn das Ganze nicht zu einem Kampf gegeneinander um die Finanzmittel des Bundes ausartet.
Um das zu verhindern, dürfe – das fordert Jürgen Zimmerer – das Budget der bestehenden Institutionen nicht angerührt werden. Und der Bund müsse auch garantieren, "dass die neuen Säulen angemessen finanziert werden, wobei nicht das Gedenken an den Holocaust der Maßstab sein kann, aufgrund der Singularität dieses Menschheitsverbrechens. Das wäre vermessen und geschichtsvergessen". Die Aufarbeitung des DDR-Unrechts böten allerdings einen guten Vergleichspunkt. So Zimmerer in einem Rundbrief an die Presse.
Dieser Artikel ist erstmals am 29. April 2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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