Porträt des Politikers in einem Sessel sitzend
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Henry Kissinger

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Fasziniert von der Macht: Henry Kissinger gestorben

Er galt als Kalter Krieger im Weißen Haus, zwielichtiger Diplomat, gerissener Realpolitiker und war ein brillanter Historiker und Autor. Hochbetagt, hatte er das Privileg, an seinem eigenen Mythos zu arbeiten - doch der erwies sich als brüchig.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Lagen sie alle falsch, die Fans, die Kritiker und sogar er selbst? So sah es jedenfalls der "New Yorker" im Mai 2020 und schrieb, Henry Kissinger sei gar nicht die "bemerkenswerte Person" gewesen, für die ihn alle hielten. Vielmehr wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei dem ehemaligen US-Sicherheitsberater und Außenminister um eine Mischung aus "Kriegsverbrecher" und "Paranoiker" handle - seine zahlreichen Biographen wollten also offenkundig nicht "ruhig Blut" bewahren, sondern liebten die Zuspitzung. Zuletzt hatte der Amerikanist Bernd Greiner in seinem Buch "Henry Kissinger - Wächter des Imperiums" (2020) versucht, den Friedensnobelpreisträger des Jahres 1973 als üblen Intriganten und skrupellosen Machtmenschen zu entlarven, der sein ganzes, langes Leben vor allem an einem interessiert war: Seiner eigenen PR.

"Fürchterlich deutsch" oder "amerikanischer als Amerikaner"?

Bei so viel Geltungsdrang kein Wunder also, dass der 1923 im fränkischen Fürth geborene, viel bewunderte und noch mehr verachtete Universal-Politiker von Jugend an ein begnadeter und ehrgeiziger Autor war - und in späteren Jahren zum redseligen Historiker wurde. Schon mit 28, an der Harvard Universität, wo er ab 1947 mit einem Sonderprogramm für ehemalige Soldaten Politische Wissenschaften und Englische Literatur studierte, gründete Kissinger seine eigene Zeitschrift, und zwar mit dem verheißungsvollen Titel "Confluence" (Zusammenwachsen). Zu denen, die Artikel beisteuerten, gehörten so illustre Promis wie Hannah Arendt, Reinhold Niebuhr, Arthur Schlesinger Jr. und Lillian Smith. Verleger James Laughlin hielt Kissinger schon damals für eine "durch und durch anständige Person", aber auch für "fürchterlich verbissen, also deutsch".

Jedenfalls motivierte Kissinger seine Beobachter und Wegbegleiter über Jahrzehnte hinweg immer wieder zu anregenden Studien: Es gibt eine Flut von Literatur über den begnadeten Selbstdarsteller, es gibt Psychoanalysen, Abrechnungen, Hymnen und Enthüllungen. Und dass der Mann aus Deutschland stammte, war natürlich stets Thema, wenngleich seine Kameraden in der 84. Infanterie-Division während des Zweiten Weltkriegs ihn für "amerikanischer als die Amerikaner" hielten. Die Macht soll ihn schon damals fasziniert haben, und als Besatzungssoldat hatte er Gelegenheit, schnell Führungsverantwortung zu übernehmen: Für die Enttarnung einer "Gestapo-Zelle" bekam er eine Auszeichnung.

Bei Kissinger zitterte die Pegel-Nadel nicht

Ob Kissinger schon damals so abgebrüht war, wie ihn Star-Interviewerin Oriana Fallaci in Erinnerung hatte? Sie sprach mit ihm am 4. November 1972 und erinnerte sich an einen "eiskalten" Kerl, der sich dermaßen monoton und gleichmütig äußerte, dass die Aufnahmepegel-Nadel am Tonbandgerät, die bekanntlich sonst je nach Lautstärke zittert, in diesem Fall wie einbetoniert still stand: "Ich hustete ab und zu, um zu kontrollieren, ob sie überhaupt ausschlägt", so die 2006 verstorbene Fallaci. Kissinger verglich Amerika damals mit einem "einsamen Cowboy", der dem Wagen-Treck voran galoppiert und für Ordnung sorgt - eine Wortwahl, die Präsident Richard Nixon nicht sonderlich gelungen fand.

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Angela Merkel und Kissinger

Dass er ständig mit dem österreichischen Staatsmann Metternich verglichen wurde, dazu trug Kissinger selbst schon als ehrgeiziger Akademiker eifrig bei, schließlich promovierte er über diesen hoch umstrittenen Regisseur des "Wiener Kongresses". Überhaupt, so William T. Weber 1978 in einem Essay, sei es womöglich naheliegender, Kissinger nicht als Diplomat, sondern als Geschichtsschreiber zu sehen. Immerhin habe der Mann selbst darauf hingewiesen, dass er erst Historiker und dann Politiker war und dass er wie Metternich eine "neue Weltordnung" im Auge gehabt habe, lasse sich auch schlecht abstreiten. Außerdem war Kissinger deutlich länger Universitätsprofessor als Amtsträger.

"Ombudsmann" in allen Angelegenheiten

Auf seine hoch gesteckten Ziele konnte er sich somit ausreichend vorbereiten: Von 1954 bis 1971 unterrichtete er an der Harvard University internationale Politik, profilierte sich als Regierungsberater und spezialisierte sich auf Rüstungsfragen, dem wichtigsten Feld während des Kalten Krieges. Nach seiner vergleichsweise kurzen aktiven politischen Laufbahn 1977 kehrte er flugs zurück zu seinen Wurzeln und übernahm an der Georgetown University in Washington D.C. einen Lehrstuhl für Internationale Diplomatie. Weil ihn das natürlich nicht ausfüllte, gründete er 1982 seine eigene Firma, "Kissinger Associates", und war fortan weltweit gefragter "Ombudsmann" in so ziemlich allen Angelegenheiten und auf allen Kontinenten.

Überhäuft mit Auszeichnungen und international vernetzt wie wohl wenige andere, konnte Kissinger nach und nach vergessen machen, welche düsteren Themen seine Amtszeiten als Sicherheitsberater und Außenminister überschattet hatten: Der Vietnamkrieg und der vom CIA geförderte Rechts-Putsch in Chile. Lieber als über diese "dunklen Flecken" in seiner Karriere sprach er darüber, wie die Welt stabilisiert werden könne und als historisch Gebildeter verwies er 2013, mit neunzig Jahren, im Gespräch mit dem "Spiegel" auf den Westfälischen Frieden, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg in der Mitte Europas beendet hatte: "Der Frieden wurde abgeschlossen, nachdem fast ein Viertel der zentraleuropäischen Bevölkerung durch Krieg, Krankheiten und Hunger dahin gerafft worden war. Der Frieden war auf die Notwendigkeit gegründet, irgendwie miteinander klar zu kommen, nicht auf irgendeine höhere Moralität. Unabhängige Staaten entschieden, sich in ihre Angelegenheiten gegenseitig nicht einzumischen. Sie schufen eine Machtbalance, die uns derzeit fehlt."

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Kissinger als frisch ernannter Sicherheitsberater von Richard Nixon (Mitte)

Seine Lebenserinnerungen schrieb Kissinger vergleichsweise früh, mit nicht mal sechzig. Die ersten beiden Bände erschienen recht schnell hintereinander, 1979 und 1982, für den angekündigten dritten Teil, der seine Außenministerjahre unter Nixons Nachfolger Gerald Ford umfasst und den Titel "Jahre der Erneuerung" trägt, brauchte Kissinger dagegen beachtlich lang: Das Buch kam erst 1999 heraus. Insofern tat sich der Politiker leicht, darin seine eigene Ära als Vorgeschichte der epochalen Wende von 1989 zu beschreiben: "Als das Breschnew-Regime stagnierte, zeichnete sich der Sieg im Kalten Krieg bereits ab, wenn das damals auch kaum jemand wahrhaben wollte." Tatsächlich hatte Kissinger eher das Pech, in einer Zeit der amerikanischen Selbstzweifel zu amtieren: Sowohl die Niederlage in Vietnam, als auch das Scheitern der Abrüstungsgespräche unter dem Namen SALT und die aggressive Außenpolitik von Kuba musste Kissinger hinnehmen.

Abstrakt denken, konkret handeln

So bleibt der Eindruck, dass Kissinger als Vordenker, Theoretiker und Intellektueller der Weltpolitik kaum zu übertreffen war, an der Realität gemessen als Praktiker jedoch äußerst umstritten und bisweilen glücklos handelte. Seine Bücher werden bleiben, neben den Memoiren vor allem die "Weltordnung" von 2014 und "Die Herausforderung Amerikas. Weltpolitik im 21. Jahrhundert" (2002). Wer sich für seine Höhen und Tiefen näher interessiert, kann aus einer ganzen Bibliothek von Kissinger-Literatur wählen.

"Alles hängt von einer klaren Vorstellung über die Zukunft ab", hatte der Politiker als Motto eines Buches gewählt, das den bezeichnenden Titel trug "Kissinger über Kissinger" (2014). Darin schrieb er hochbetagt, die amerikanische Außenpolitik müsse von Prinzipien abgeleitet werden, statt ständig auf Ereignisse zu reagieren. Das ist in der Tat die Quintessenz eines Intellektuellen: Abstrakt denken und daran das konkrete Handeln orientieren. Doch in einer Welt, die sich immer schneller und immer grundlegender verändert, kam auch Kissingers Politikansatz allmählich an seine Grenzen.

Henry Kissinger starb am 29. November in Connecticut, wie sein Beratungsunternehmen mitteilte. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte ihn als "großen Kämpfer für Freiheit und Demokratie“ und „Hüter der transatlantischen Beziehungen". Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder schrieb, Bayern trauere um Kissinger, einen bedeutenden Staatsmann, "der mit Weitsicht und großem analytischen Scharfsinn die Menschen überzeugen konnte".

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