Das Jahr 1917 und seine weitreichenden Folgen – darunter der Bürgerkrieg in Russland, aber auch die Gründung der Kommunistischen Partei in China – stehen im Zentrum von Gerd Koenens umfangreichem Buch „Die Farbe Rot“. Gleichzeitig entwickelt der Historiker eine lange Perspektive, fragt etwa nach den Anfängen des Nachdenkens über eine gerechte Gesellschaft in der antiken Philosophie, ebenso nach christlichen Gerechtigkeitsvorstellungen und utopischen Entwürfen in der frühen Neuzeit. Der Begriff "Kommunismus" tauchte vielleicht nicht ohne Zufall zum ersten Mal in den Jahren der französischen Revolution auf, mitten in der Formierung der modernen Welt.
"Der Kommunismus rekurriert ja auf ganz alte Begriffe: die Commune, in Frankreich sowieso, das bien commun, das Gemeinwohl, aber auch die christliche communitas oder die Kommunion. Das ist die Vorstellung einer wiederhergestellten Brüderlichkeit, die man sich entweder sektiererhaft klein vorstellen kann – das gab es ja auch schon. Oder aber man konnte es auf die ganze Gesellschaft übertragen. Und dann hieß das Gemeinwirtschaft in einem sehr pathetischen Sinn. Wirtschaft wird jetzt zum Wesentlichen. Es bedeutet Aufhebung der Klassentrennung. Und Klassen gab es. In dem Sinne ist es die Vorstellung, ein neues gesellschaftliches Ganzes zu schaffen inmitten einer Situation, in der – übrigens auch von konservativer Seite – die Vorstellung war, dass die modernen Produktionsweisen und die Kommerzialisierung der Gesellschaft den gesellschaftlichen Zusammenhang zerreißt." Gerd Koenen
Der Kommunismus: Antithese zum Kapitalismus
Der Kommunismus ist in seiner historischen Entwicklung untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden. Er entstand im Zusammenspiel mit ihm und entwickelte sich zugleich als ein zentraler Gegenentwurf, als eine Antithese. Marx, der – bei aller Kritik – vom kreativen Potential der kapitalistischen Wirtschaft enorm fasziniert war, verstand den Kommunismus als umfassendes emanzipatorisches Projekt:
"Der frühe Marxsche Kommunismus, der als Begriff aber im Übrigen fast verschwindet und in den europäischen Sozialismus eingeht, der ist meines Erachtens sogar ein Kernelement von all dem, was wir als eine moderne Gesellschaft bezeichnen. Denn alle Emanzipationen – nicht nur der arbeitenden Schichten, auch in staatsbürgerlicher Hinsicht, aber eben auch in sozialer Hinsicht, Frauenemanzipation, Gleichberechtigung der verschiedenen Ethnien, Religionen, Nationalitäten – das hat ja sonst niemand vertreten. Das war eine Sache der sozialistischen Bewegung vor 1914, die auch die Gesellschaften wesentlich mitgeprägt hat." Gerd Koenen
Das blutige Kalkül der roten Revolutionäre
Die Ideen der Autoren des "Kommunistischen Manifestes" inspirierten in ganz Europa sozialdemokratische Bewegungen. In der dramatischen Ära der Hochindustrialisierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten die marxistischen Überzeugungen Hochkkonjunktur. Im Zuge des Ersten Weltkriegs und der bolschewistischen Machtübernahme in Russland wurde der Kommunismus aber dann zum großen Konkurrenz-System: Lenin diktierte, es gebe nur Unterwerfung oder Krieg. „Tertium non datur“. Die Entfesselung der Gewalt lag im Kalkül der roten Revolutionäre. Sie ist ebenso ein Resultat der besonderen Situation in Russland, einer langjährigen Krisenzeit. Das Ausmaß der Gewalt war allerdings – verglichen mit früheren sozialen Erhebungen und Revolutionen – ein besonderes. Einen vergleichbaren Massenterror – so Gerd Koenen – habe es zuvor nicht gegeben, auch nicht in der Französischen Revolution.
Gerd Koenen: "Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus." C.H. Beck, 1133 Seiten, 38 Euro