„Ein Philosoph, der etwas taugt, müsste immer etwas von einem Kinderbuchautor an sich haben“, schreibt der Philosoph Peter Sloterdijk. Man kann den Satz auch variieren: Ein Philosoph, der etwas taugt, sollte immer auch ein Tagebuch-Autor sein. Das ist Peter Sloterdijk. 2012 erschien die erste Lieferung seiner fulminanten Notizen aus den Jahren 2008 bis 2011. Diesem Buch lässt der 71-Jährige nun einen neuen Band folgen: „Neue Zeilen und Tage Notizen 2011-2013“. Knut Cordsen hat mit Peter Sloterdijk gesprochen.
Knut Cordsen: Sie nennen das Notizenmachen „das tägliche Absenden von Telegrammen an mich selbst“. Ist diese Art Fernschreiben an sich selbst für Sie demzufolge eine Notwendigkeit, ohne die es nicht geht?
Peter Sloterdijk: Eine Notwendigkeit entsteht dann, wenn eine Übung, eine Gewohnheit sich so tief in die Person eingeprägt haben, dass sie es sich anders nicht mehr vorstellen kann. Die Notwendigkeit entsteht aus einer Selbstprägung oder aus einem Training. Das Training erzeugt einen Habitus, und der Habitus geht in die Person ein. Die Person ist eigentlich nur die Summe ihrer Übungen.
Sie nennen Paul Valérys „Cahiers“ als Vorbild für Ihr eigenes Tun und sprechen mit Valéry von einer „intellektuellen Komödie“. Tatsächlich erkennt man in Ihren Notizen immer wieder den Komödiendichter Sloterdijk - zumal dann, wenn Sie sich als „altes Zirkuspferd“ beschreiben, das durch die akademischen Manegen dieser Welt zottelt und mit einem Freund am Telefon beschließt einen „Gipfel der Melancholiker“ einzuberufen.
Das komödiantische Element soll man natürlich vor allem auch im Lichte der französischen Ausdrucksweisen verstehen. ‚Comédie Intellectuelle‘ ist bei Paul Valéry nicht unbedingt das, was man eine Komödie nennt. Die Comédie Française umfasst das Gesamt der theatralischen Produktion, und der Notizbuch- oder Tagebuchschreiber ist in gewisser Weise ein Schauspieler, der seine eigenen Erfahrungen aufführt, zunächst für sich selbst ganz intim – und sie dann nach einer gewissen Sortierung in Literatur verwandelt.
Der „intellektuelle Markt“ ist Ihrem Urteil nach „von Beharrungsgespenstern überfüllt“. Fühlen Sie sich mit 71 manchmal selbst als ein solches Beharrungsgespenst?
Notwendigerweise. Denn ich stamme ja ganz offenkundig aus einer anderen Zeit. 1947 geboren, hat man als Mitglied dieser Generation eine typische Erfahrung in den Knochen. Es ist einem zumute, als hätte man selber noch den Bombenkrieg erlebt. Auch wenn man nur dessen psychisches Echo in den Personen kennengelernt hat. Kinder sind ja wie Seismographen oder wie Röntgengeräte, die die Stimmungen der Älteren durch Durchleuchtung sichtbar machen, und nur wenige Jahre nach dem Krieg ist der Krieg in den Seelen noch nicht beendet. Unter diesem Gesichtspunkt bin ich noch ein Kriegskind gewesen und lebensgeschichtlich in diese ungewöhnliche Zeit der frühen 60er und frühen 70er-Jahre hineingewachsen. Auch das ist gegenüber dem heutigen Zeitgeist eine ganz andere Epoche. Wir leben nicht nur kalendarisch in einem anderen Jahrhundert oder Jahrtausend, sondern auch psychologisch und sozialgeschichtlich.
Ich entnehme Ihren neuen Notizen eine erstaunliche Zahl: Täglich sind ca. 15.000 Passagierflugzeuge unterwegs in den Lufträumen dieser Welt, notieren Sie einmal. In einer dieser Maschinen, könnte man überspitzt sagen nach der Lektüre Ihrer Tagebücher, sitzt mit ziemlicher Sicherheit Peter Sloterdijk. Es ist schon erstaunlich, wie viel Sie reisen: nach Abu Dhabi, Korsika, Amsterdam, Karlsruhe, Wien, München, in die Vereinigten Staaten, hin und her. Ihr Leben zeichnet eine nicht unerhebliche Rastlosigkeit aus.
In der Tat, diese Ruhelosigkeit ist in meinem Leben eigentlich ein Import. Ich bin eher ein Höhlenbewohner. Ich habe mich dem Diktat meines Lebensstils angepasst. Es ist einfach so, dass – anders als in früheren Zeiten – nicht die Berge zum Propheten kommen, sondern der Prophet muss zum Berg fahren. Und daher hat sich die moderne Art und Weise, Philosophie zu praktizieren, dem Wanderzirkus angeglichen.
Lassen Sie uns über Politik reden. Sie charakterisieren den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff in einer wunderbar polemischen Formulierung als „Banalitätsgranate“, und vor allem an Angela Merkel scheinen Sie einen Narren gefressen zu haben, so oft taucht sie auf in Ihren Notizen. Sie beschreiben ihre „staatstragende Müdigkeit“: „Sie lächelt ihr alternativloses Lächeln, das einem permanenten Schlusswort gleichkommt“. An anderer Stelle schreiben Sie: „Kanzlerin Merkel, braves Mädchen und Freundin der Vernunft“ und – auch das Ihre Worte – „die Große Mutter der Entpolitisierung“. Inwiefern ist Merkel das?
Frau Merkel hat es in einer jetzt knapp dreizehnjährigen Regierungszeit fertig gebracht, eine Stimmung der Alternativlosigkeit über das Land zu verhängen. Ich deute das als ein Mitbringsel aus ihrer DDR-Jugend, diese real existierende Parodie eines Einparteiensystems. Ich glaube, dass sie diese Aura der Ein-Partei-Wirtschaft um sich herum verbreitet und das Land mit einem Grundgefühl der Unmöglichkeit eines Wechsels infiziert hat.
Zwischen Volk und Politikern diagnostizieren Sie einen tiefe Entfremdung. 2013 schreiben Sie: „Keiner soll sich wundern, wenn Volk und Politiker keine gemeinsame Sprache finden. Die letzteren leben im Regelkreis eines autogenen Trainings, das sie auf helle Stimmungen trimmt. Das entfremdet sie von der resignierten Menge. Die Krise der Repräsentation betrifft nicht nur die parlamentarischen Institutionen, sondern auch die egotechnischen Prozeduren, die die optimistischen Schwingungen erzeugen.“ In der alten Bundesrepublik gab es die Metapher vom volksfernen „Raumschiff Bonn“ – lebt die repräsentierende Klasse heutzutage auf dem „Traumschiff Berlin“?
Ganz sicher. Mir scheint die Begriffsprägung „Parallelgesellschaft“ gar nicht so sehr bestimmte Subkulturen zu charakterisieren, die sich in Berlin oder anderswo auf der Basis von Zuwanderung gebildet haben. Die entscheidende Parallelgesellschaft bildet die politische Klasse in sich selbst, und sie beruht auf einer permanenten Verschränkung von autohypnotischen und heterohypnotischen Prozeduren. In der Sprachphilosophie würde man das Sprachspiele nennen. Sprachspiele haben natürlich immer auch einen selbstbezüglichen Effekt. Politiker müssen die Fähigkeit entwickeln, zu glauben, was sie sagen. Sonst würden sie das Gesetz der ständigen Wiederholung nicht befolgen können.
2011 noch konstatieren Sie in Ihren Notizen, die BRD sei „bisher das einzige Land ohne nennenswerte rechtsextreme Partei“. Später dann wandelt sich das mit der Gründung der AfD 2013. Da notieren Sie sehr hellsichtig: „Die frisch gegründete europakritische Alternative für Deutschland könnte ein Sammelbecken für alle Arten von Dumpfheit und Ängsten werden. Vielleicht hat sie das Zeug zu einem deutschen Front National. Aber ob in Frankreich oder hier: Sich von solchen Tendenzen etwas zu erhoffen, das wäre, als wenn die Römer die Goten bäten, das Reich zu retten.“ Solche Sätze strafen letzten Endes all diejenigen Lügen, die Ihnen eine Nähe zur AfD unterstellt haben.
Nun ja, die Unterstellung von Nähe zu diesem und jenem gehört zum alltäglichen Geschäft der diskutierenden Klasse, die zu der regierenden Klasse in einem polemischen Gegensatz steht. Ich selber habe diese Parteigründung immer mit Misstrauen verfolgt, zumal ja auch in meiner Nähe eine Person existiert hat, die sich damit identifizieren konnte ...
... der heutige AfD-Bundestagsabgeordnete Marc Jongen ...
... richtig, der eine Zeit lang bei mir an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe tätig war. Mir war die Gründung insofern unsympathisch, weil ich des Glaubens bin, dass kleine Parteien die Demokratie zerstören. Das habe ich am Beispiel Italiens über Jahrzehnte beobachtet. Es gibt Gegenbeispiele wie in Holland, wo das Viel-Parteien-System mit einer relativ vitalen Demokratie kompatibel zu sein scheint. Aber es gibt wenige Beispiele dafür, dass ein Viel-Parteien-System für das demokratische Leben von Vorteil ist. Ich war ein Sympathisant einer stark polarisierenden volksparteilichen Grundsituation, wie wir sie in den ersten 50 Jahren der Bundesrepublik gesehen haben. Man konnte sich da in die eine oder andere Richtung bewegen, und es gab hinreichend deutliche Unterschiede. Im Augenblick entsteht eine starke Nivellierung, und die Parteien sind dazu angehalten, Pseudo-Differenzen zu stärken.
Bei all Ihrer Distanz zur AfD, steht – was man als Radio-Mensch nicht gerne hört – Ihr Wort vom „Lügenäther“ nach wie vor im Raum, sozusagen Ihr Pendant zur „Lügenpresse“. Solche Polemiken haben Sie ja auch an dem von Ihnen so bezeichneten „Medienpranger der modernen Publizistik“ landen lassen. Stehen Sie zu dem Wort vom „Lügenäther“?
Ja unbedingt. Wissen Sie, das ist eine medienkritische Konstante, seit der Buchdruck aufgekommen ist, seit in der Reformation die Ein-Blatt-Drucke so etwas wie eine moderne Öffentlichkeit vorweggenommen haben, seit es im 18. Jahrhundert die Zeitungen gab und die im 19. Jahrhundert entstehende Massenpresse. Seitdem war von vornherein immer klar, dass mit dem Publizieren auch eine Zunahme des desinformierenden Faktors einhergegangen ist. Eigentlich ist die Presse aus der Professionalisierung der Propaganda entstanden. Vor allem die Presse des 20. Jahrhunderts, die ja ihre Feuertaufe in der nationalen Berichterstattung während des Ersten Weltkrieges erlebt hatte. Da wurden eigentlich Leser-Öffentlichkeiten geformt, die die tägliche Sensation verlangt haben, und während der Kriegszeiten waren die nationalen Pressen in ganz Europa Waffengattungen der Kriegsführung. Die Rekonversion dieser Systeme in den zivilen Gebrauch war immer ein schwieriger und mühsamer Vorgang, weil außer der Schweizer Presse, die strukturelle Neutralität durch ihre Position erlangt hat, alle anderen National-Pressen zu tendenziöser Berichterstattung verurteilt waren. Es ist kein Zufall, dass der große Medienkritiker Karl Kraus über das gesamte Presse-System der Neuzeit eine dunkle Metapher geprägt hat, die lautet: „die schwarze Pest“.
Sie preisen in Ihren Tagebüchern den „Roman als Welt-Sonde“ – „selbst wenn 98 Prozent der Produkte dieses Genres besser eingestampft würden, bevor ein Leser auch nur eine Minute seiner Lebenszeit mit ihnen verliert“. Sie haben sich selbst als Romanautor vor gar nicht so langer Zeit versucht mit ihrem Buch „Das Schelling-Projekt“. Hat das auch damit zu tun, dass Sie sich seit jeher eher als philosophischer Schriftsteller oder literarischer Philosoph begreifen und dabei den Akzent auf die Literatur legen?
Das ist wahr. Ich glaube, dass die Philosophie eigentlich nur zwei Pole der Artikulation kennt. Das eine ist die Philosophie auf dem Weg zur Mathematik, die am Ende einen logischen Formalismus findet, um sich auszusprechen – allerdings nur, um ihr Bedürfnis nach Exaktheit zu realisieren. Und es gibt den anderen Pol, in dem die Philosophie zur Selbstdarstellung ihres Autors wird. Schon Nietzsche hat ja gesagt, dass die meisten Philosophien unbemerkte Memoiren und Selbstbekenntnisse ihrer Verfasser seien. Diese Unbemerktheit kann heute nicht mehr in Anspruch genommen werden. Man sieht es den philosophischen Systemen an, von wem sie stammen, und bei Wittgenstein, Heidegger und natürlich in erster Linie bei Nietzsche wird ganz deutlich, dass Philosophie die Form einer großen Konfession annimmt. Ich rechne mich dieser Tendenz stärker zu. In ihr findet man dann auch – wie schon bei Kierkegaard und anderen – diejenigen Autoren, die als Formulierer Eindruck machen wollen.
Peter Sloterdijk: "Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011-2013", erschienen bei Suhrkamp.
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