Egal wo, jeder Krieg stößt uns zurück in eine längst überwunden geglaubte Archaik. Auch die Bilder sind voller Stereotypen: Männer als Krieger, Frauen als flüchtende Opfer. Das gilt aktuell für die Situation in der Ukraine – aber genau so sehr für die Lage in Afghanistan. Nach dem Truppenabzug der Amerikaner und der deutschen Bundeswehr haben dort im letzten Jahr die Taliban die Macht übernommen. Die Journalistin und ARD-Korrespondentin Natalie Amiri hat ihr kürzlich erschienenes Buch "Afghanistan" den afghanischen Frauen gewidmet. Ein Gespräch über gebrochene Versprechen der Taliban und weibliche Widerstandskraft.
Barbara Knopf: Sie sind letzten Herbst, 100 Tage nach der Machtübernahme der Taliban nach Afghanistan gereist. Sie waren schon davor öfter im Land. Wie hat sich das Leben der Frauen verändert?
Natalie Amiri: Von heute auf morgen komplett. Sie haben alles verloren, alles, für das sie 20 Jahre lang gekämpft haben. Man darf nicht vergessen, den Frauen wurde ihre Freiheit in den letzten Jahren nicht geschenkt. Sie mussten sich– trotzdem sie Schutz durch eine Verfassung, eine Regierung, die internationale Staatengemeinschaft, die vor Ort war – immer wieder gegen ihre Familien durchsetzen, gegen den Vater, den Bruder, gegen den Cousin, gegen den Onkel. Und jetzt kommen all diese Männer wieder, denn sie haben jetzt Aufwind bekommen, durch die Machtergreifung der Taliban, und sagen zu den Frauen: So, jetzt ist Payback-Time, jetzt kommt ihr zurück an den Herd, zurück nach Hause. Ihr habt studiert, ihr habt alleine gelebt, ihr habt euer eigenes Geld verdient, ihr wart emanzipiert. Jetzt ist Schluss damit, denn jetzt schützt euch niemand mehr. Es gibt keine Verfassung mehr, es gibt das Frauenministerium nicht mehr, es wurde ersetzt durch das Ministerium für Tugend. Es gibt niemanden mehr, der diese Frauen Schutz gewährt- ihnen einen sicheren Raum gibt.
Es passiert also genau das Gegenteil von dem, was die Taliban vorgegeben haben, zu tun. Sie sagten, sie würden die Frauenrechte nicht antasten. Konkret heißt das, dass zum Beispiel Mädchen ab der sechsten Klasse nicht mehr in die Schule gehen?
Genau, anders als die Taliban zugesichert haben, haben sie ihr Versprechen nicht eingehalten, dass die afghanischen Mädchen nach dem Neujahrsfest am 20. März wieder in weiterführende Schulen gehen dürfen. Das Versprechen war auch ein Testballon für den Westen: Können wir mit den Taliban arbeiten, können wir auf sie vertrauen? Dieses nicht eingehaltene Versprechen hat viele entsetzt. Nicht nur die Mädchen und nicht nur den Westen, sondern selbst Islamgelehrte im Land, die gesagt haben: Moment mal, das ist nicht vereinbar mit dem Islam und ihr habt es versprochen.
Natürlich macht sich auch der moderatere Zweig der Taliban Sorgen, denn sie haben dem Westen vor allem dieses Versprechen gegeben, weil sie Geld brauchen. Das Land ist bankrott. Afghanistan wird zu 75 Prozent finanziert von internationalen Geldern und die wurden seit dem Sommer eingestellt. Das Land befindet sich in einer humanitären Katastrophe. Ein Begriff der von der Ferne kaum nachvollziehbar und greifbar ist, aber es ist, wenn man dort ist, wirklich kaum zu ertragen: Die Armut und die Verzweiflung der Menschen ist riesig. Viele Gehälter werden nicht mehr ausgezahlt. Afghanistan wurde vom internationalen Bankenverkehr durch das SWIFT-System ausgeschlossen. Die Taliban wissen, sie brauchen Beziehungen zum Westen, zu internationalen Geldgebern. Aber jetzt sieht es erst mal danach aus, dass sich die Hardliner innerhalb der Taliban ein Eigentor geschossen haben.
Sie haben vorhin gesagt, die Frauen haben alles verloren, sie sind die großen Verliererinnen unter diese Taliban-Herrschaft. Das ist ja eine Bestandsaufnahme, bei der es dann oft bleibt in der Berichterstattung. In Ihrem Buch schreiben Sie aber auch von Frauen, die sich zur Wehr setzen.
Letzte Woche wurde das Exil-Parlament der afghanischen Ex-Parlamentarierinnen in Athen gegründet. Wir waren von der ARD mit der Kamera dabei, durften dort drehen, und haben wirklich sehr bewegende Reden hören können. Die Frauen in Afghanistan allerdings sind für den Moment weitestgehend mundtot gemacht worden. Es ist gerade sehr gefährlich, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Diejenigen, die auf die Straße gegangen sind, wurden entweder zusammengeschlagen, mit Tränengas beschossen oder verhaftet.
Dennoch zitieren Sie eine Menschenrechtlerin in ihrem Buch, die sagt: Wir sind nicht mehr die Frauen von vor 20 Jahren.
Ja, Mahbouba Seraj hat mir ein unglaublich bewegendes Interview gegeben. Sie ist eine wirkliche Kämpferin, war 20 Jahre lang im Exil, kam dann 2003 wieder zurück nach Afghanistan. Sie ist sehr angesehen. Gerichtet an die Taliban hat sie gesagt: was wollt ihr machen, wollt ihr uns alle köpfen? Wollt ihr uns wegsperren? Wollt ihr uns eliminieren? Wir sind nicht mehr die Frauen von vor 20 Jahren. Ihr könnt das nicht mit uns machen. Sie gibt den Taliban ein Gesprächsangebot und sagt: Lasst uns gemeinsam unser Land aufbauen. Es fühlt sich gerade ganz gut an, dass zum ersten Mal seit Jahrzehnten keine ausländische Macht mehr in unserem Land ist. Seht es als Chance an, lasst uns gemeinsam, ihr Taliban und wir Frauen, an einem Strang ziehen und lasst uns unser Land aufbauen. Als ich vor knapp drei Monaten dort war, hatte sie noch große Hoffnung. Ich muss aber auch sagen, dass ihre Hoffnung schwindet. Denn gerade das nichteingehaltene Versprechen der Taliban, die Mädchenschulen zu öffnen, hat für große Frustration gesorgt.
Und bei dem Exil-Parlament in Athen - was haben Sie dort für Reden gehört? Was war der Tenor?
Wir werden unsere Stimme weiter erheben! Wir werden lautstark protestieren! Und wir werden für eine bessere Zukunft Afghanistans kämpfen! Insofern war es schon sehr bewegend, die Frauen in Athen zu hören. Aber man muss dazu sagen, sie befinden sich in Sicherheit. Und Tausende, Zehntausende Frauen verstecken sich gerade, haben keine Möglichkeit in humanitäre Programme zu kommen. Europa hat jetzt einen neuen Krieg und der befindet sich vor der Tür. Diesen hilfsbedürftigen Menschen, die um Hilfe flehen, wird gesagt: Es gibt gerade weder Programme noch die Kapazität.
Es gibt den persischen Begriff "Shir Zan": "Shir" heißt Löwe und "Zan" Frau, "Shir Zan" ist die Löwenfrau. Ich habe unglaublich viele Löwenfrauen in Afghanistan kennengelernt. Auch unter den geflüchteten Frauen, die rausgegangen sind und in kürzester Zeit sehr viel aufgebaut haben: Online-Universitäten, Online-Schulen, um Unterricht zu gewährleisten für Mädchen, die nicht mehr die Schulen besuchen können. Mir schießen wirklich oft die Tränen in die Augen, weil ich vor diesen Frauen stehe und denke: Wow, was habt ihr alles durchgemacht und ihr habt nicht euren Mut verloren, nicht eure Hoffnung verloren, ihr kämpft weiter.
Haben Sie das auch bei Frauen in anderen Krisengebieten erlebt? Sie stammen selbst aus einer deutsch-iranischen Familie. Sie sind in vielen Ländern unterwegs gewesen, auch in Syrien. Sie haben das ARD-Studio in Teheran geleitet. Gibt es weibliche Muster, das Schicksal in die Hand zu nehmen?
Mein Kameramann in Teheran, mit dem ich zwölf Jahre lang zusammengearbeitet habe, sagte mir irgendwann mal: Natalie, hör auf, ständig über Frauen Beiträge zu machen, es gibt hier auch Männer! Aber ich war aber einfach so unglaublich fasziniert. Ich war in Syrien, in der Türkei, im Libanon, in Ägypten, dann eben oft auch in Afghanistan, und ich habe über die Frauen von Sarajevo einen Film gemacht, 20 Jahre nach Kriegsende. Dort kämpfen bis heute Frauen darum, dass die Kriegsverbrechen anerkannt werden; dass all die Kinder, die durch die Vergewaltigungen entstanden sind, anerkannt werden; dass die Gesellschaft all diese Verbrechen aufarbeitet. In den Ländern, in denen ich unterwegs war, waren es immer die Frauen, die an vorderster Front standen, mit erhobener Faust, einem festen, durchdringenden und willensstarken Blick, die gesagt haben: Wir lassen uns nicht unterkriegen! Manchmal denke ich mir, wir könnten uns hier in unserer wirklich wohltuenden Demokratie ein Scheibchen abschneiden von diesem Kampfgeist.
Der aber wahrscheinlich auch aus einem Widerstand heraus entsteht …
Natürlich, der entsteht aus einem Widerstand und aus einer Not. Wenn man nicht in einer gefährlichen Lage ist, muss man weniger kämpfen. Aber wenn, dann sieht man, was die Frauen leisten, wenn sie in Not kommen, sich verteidigen müssen und in den Kampf ziehen. Das sehen wir auch an all den Frauen, die jetzt aus der Ukraine kommen, die ihre Kinder manchmal auf dem Rücken tragen, mit einer kleinen Reisetasche in der Hand, sonst nichts dabeihaben und sich durch Kriegszonen kämpfen mussten. Sie alle haben meine Hochachtung für ihre Kraft. Doch eines darf man nicht vergessen, ich sprach jetzt überwiegend über die Kämpferinnen der Gesellschaft. Es gibt auch sehr, sehr viele Frauen, die sich aufgrund der Unterdrückung, aufgrund der traumatischen Erlebnisse nie wieder erholen.
Von Natalie Amiri ist kürzlich im Aufbau-Verlag das Buch "Afghanistan. Unbesiegter Verlierer" erschienen, eine umfassende Reportage über die Vielschichtigkeit dieses Landes.
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