Eine Hand greift in einen Geldbeutel mit Münzen.
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Datenanalyse: Wer ist in Bayern eigentlich arm?

Beim Thema Armut scheint Bayern Vorbild – das Bundesland mit der niedrigsten Armutsgefährdungsquote. Ein genauer Blick in die Daten zeigt: So einfach ist es nicht. Wer in Bayern von Armut bedroht ist und was Geschlecht und Wohnort damit zu tun haben.

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Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

1.189 Euro Nettoeinkommen pro Monat: Das ist die Armutsgefährdungsschwelle in Deutschland im Jahr 2022. Verdient eine alleinlebende Person weniger, gilt sie offiziell als von Armut bedroht. Der Kennwert wird nach Haushalten und deren Bedarf gewichtet. Für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren liegt die Schwelle bei 2.498 Euro Gesamtnettoeinkommen.

Relative Armut über das Einkommen der Gesamtbevölkerung definiert

Schaut man sich an, welcher Anteil der Menschen unterhalb dieser Grenzwerte liegt, erhält man die Armutsgefährdungsquote. Sie ist in der amtlichen Statistik der am häufigsten gebrauchte Kennwert.

Armutsgefährdung wird dabei durch den Vergleich mit dem Medianeinkommen der gesamten Bevölkerung definiert. Der Median bezeichnet den Wert, der genau in der Mitte liegt. 50 Prozent der Bevölkerung haben ein größeres und 50 Prozent ein kleineres Einkommen. Die Armutsgefährdungsschwelle ist nach EU-Definition 60 Prozent dieses Medianeinkommens. Man spricht auch von relativer Einkommensarmut.

Armut in Bayern bedeutet selten Hunger, aber oft mangelnde Teilhabe

Demgegenüber steht laut Andreas Peichl, Leiter des ifo-Zentrums für Makroökonomik und Befragungen, ein sogenanntes "absolutes Armutskonzept". Das werde an harten Kriterien festgemacht, etwa, ob die Menschen ein Dach über dem Kopf oder jeden Tag genug zu essen haben. Für ein Land wie Deutschland oder ein reiches Bundesland wie Bayern sei das aber nicht sinnvoll: "In der Regel fällt niemand unter eine absolute Armutsgrenze, da wir den Sozialstaat haben, der das Existenzminimum sichert und entsprechende Leistungen bereitstellt."

Armut in Bayern oder auch in Deutschland sei deshalb immer ein relatives Phänomen. Es gehe um die Teilhabe am soziokulturellen Leben, um Kino- und Theaterbesuch, um Hobbies, aber auch um freie Zeit, um sich im Verein zu engagieren oder demonstrieren gehen zu können.

Armutsgefährdungsquote: Ein Kennwert mit Fallstricken

In Bayern lag die Armutsgefährdungsquote 2022 bei insgesamt 12,7 Prozent. Der niedrigste Wert aller Bundesländer. Eine Statistik, die von der Politik immer wieder angeführt – und von Experten regelmäßig kritisiert wird.

Denn das Einkommen der Menschen aus Bayern wird mit dem mittleren Einkommen aller Deutschen verglichen. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass das allgemeine Einkommensniveau in den Bundesländern nicht gleich ist – weil etwa auch Preisniveaus und Mietpreise sich regional stark unterscheiden. Das höhere Medianeinkommen in Bayern bedeutet also nicht zwangsweise, dass die Menschen hier auch mehr Geld zur Verfügung haben.

Deshalb empfehlen Experten, die Armutsgefährdungsquote für ein Bundesland auch immer im Vergleich zum mittleren Einkommen dieses Bundeslandes zu betrachten. Dadurch ergeben sich für Bayern deutlich höhere Schwellen: Für die alleinlebende Person 1.269 Euro, für die Familie mit zwei Kindern 2.664 Euro monatlich. 80 bzw. 166 Euro über den Schwellen für ganz Deutschland – und die höchsten Werte aller Bundesländer.

Die folgende Grafik zeigt, wie unterschiedlich die Armutsgefährdungsquoten ausfallen, je nachdem, ob man am Bundes- oder Landesmedianeinkommen misst:

Grafik: Armutsgefährdung in den Bundesländern

Misst man jedes Bundesland an seinem eigenen Landesmedianeinkommen, liegt Bayern eher im Mittelfeld. Laut Andreas Peichl vom ifo-Zentrum bedeutet das: Entweder sind im Freistaat 1,7 oder 2 Millionen Menschen gefährdet, in Armut abzurutschen.

Grafik: Armutsgefährdung in Bayern – Alter und Geschlecht

Aber auch das ist noch nicht die volle Wahrheit. Schaut man sich die Quoten nach Alter und Geschlecht getrennt an, zeigt sich, dass es innerhalb der demografischen Gruppen ein deutliches Ungleichgewicht gibt: Frauen sind in Bayern stärker von Einkommensarmut bedroht als Männer.

Besonders auffällig ist der Unterschied bei den über 65-Jährigen. Organisationen wie der Sozialverband VdK oder der Katholische Deutsche Frauenbund warnen regelmäßig vor der zunehmenden Gefahr von Altersarmut für Frauen in Bayern.

Sie führen das auf verschiedene Gründe zurück: Im Freistaat herrschten lange noch traditionelle Familienverhältnisse. Die Frauen, die schon länger im Ruhestand sind, waren oft nicht berufstätig. Und jetzt gehen die Babyboomer in Rente – eine Generation, für die es laut VdK-Präsdientin Verena Bentele keine guten Betreuungsmöglichkeiten für Kinder gab und in der die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern groß waren. Das spiegelt sich in der Rente wieder.

Und noch immer übernehmen Frauen in Bayern häufiger die Betreuung der Kinder oder die Pflege von Angehörigen. Das macht sich später in der Rente bemerkbar. In den meisten Bundesländern ist die Lücke zwischen den Senioren und Seniorinnen deutlich geringer, wie folgende Grafik zeigt:

Grafik: Gefahr der Altersarmut ist für Frauen in Bayern am größten

Grafik: Armutsgefährdung nach Haushalten in Bayern

Auch andere soziale Faktoren spiegeln sich in der Einkommensarmut wider: zum Beispiel, mit wem man zusammenwohnt. Alleinlebende haben in Bayern eine deutlich höhere Armutsgefährdungsquote als Haushalte mit zwei oder mehreren Erwachsenen. Familien mit zwei Erwachsenen und drei Kindern waren in 2022 mehr als doppelt so häufig von Armut bedroht wie kinderlose Paare. Am schlimmsten ist es jedoch für Alleinerziehende: Ihre Armutsgefährdung lag 2022 in Bayern bei 37,6 Prozent.

Eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2018 unterstützt die Aussage dieser Statistik: Kinder zu bekommen, ist ein Risiko. Und mit jedem Kind, das zu einer Familie dazukommt, steige die Gefahr, in die Armut abzurutschen.

Experte: Menschen brauchen Unterstützung, um aus eigener Kraft aus der Armut zu kommen

Am stärksten von Armut bedroht ist man in Bayern aber immer noch, wenn man keine Arbeit hat. 2022 fielen im Freistaat 39 Prozent der Menschen ohne Erwerbstätigkeit unter die bayerische Armutsgefährdungsschwelle. Laut Andreas Peichl vom ifo-Zentrum kommen Menschen aus den verschiedensten Gründen in diese Situation: Schicksalsschläge, Krankheiten, Drogenabhängigkeit, schwierige Familiensituationen.

Er sagt deshalb: "Was da notwendig ist von staatlicher Seite, ist, die Menschen zu unterstützen, mit Weiterbildung und Angeboten, um sie wieder in mehr Beschäftigung zu bekommen und ihnen so zu ermöglichen, aus eigener Kraft aus der Armut zu kommen." Es sei schon seit vielen Jahren so, dass man es vielfach nicht wirklich schaffe, die Menschen so weiterzuqualifizieren, dass sie dann am Arbeitsmarkt wieder Fuß fassen könnten.

Erhöhen das Armutsrisiko: Arbeitslosigkeit, fehlende Qualifikation, Migrationsgeschichte

Oftmals sei der Grund für eine längere Arbeitslosigkeit, dass die Menschen nicht richtig ausgebildet seien. Die Statistik zeigt: Wer sich hier verbessert, ist besser geschützt. Personen mit einem mittleren Qualifikationsniveau – etwa Berufsausbildung oder Fachabitur – sind nur halb so oft von Armut bedroht wie solche mit niedriger Qualifikation.

Nicht zuletzt macht es einen deutlichen Unterschied, ob man einen Migrationshintergrund hat – oder eben nicht. Menschen, die selbst einwanderten oder aus einer Einwandererfamilie kommen, sind in Bayern fast doppelt so oft armutsgefährdet wie Menschen ohne diese Geschichte.

Im Audio: Armut, das heißt nicht immer Obdachlosigkeit und Hunger

Hände einer älteren Person, darin verschiedene Münzen
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Ältere Menschen, besonders Frauen, sind in Bayern mit am stärksten gefährdet, in Armut abzurutschen.

Karte: Armutsgefährdung in Bayern: Unterschiede zwischen den Regionen

Die soziodemografischen Merkmale ergeben ein viel differenzierteres Bild von Einkommensarmut – und Bayern schneidet im Vergleich nicht immer gut ab. Diese Merkmale sind aber insgesamt nur ein Faktor, der bestimmt, wer von Armut bedroht ist. So kann es auch einen großen Unterschied machen, wo im Freistaat man wohnt.

Die folgende Karte zeigt, wie die Armutsgefährdungsquote sich in den verschiedenen Planordnungsregionen Bayerns unterscheidet. Es handelt sich dabei um eine Einteilung Bayerns in verschiedene Bereiche, die vor allem in der Sozialberichterstattung verwendet wird. Gemessen wird diesmal am mittleren Einkommen der jeweiligen Region, nicht am mittleren bayerischen Einkommen. Der Grund bleibt derselbe: So werden regionale Unterschiede wie etwa Wohnkosten stärker berücksichtigt.

Deutlich zu sehen ist, dass die Gebiete um die beiden größten Städte München und Nürnberg herum die höchste Armutsgefährdungsquote haben. Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze: So ist der Anteil der Menschen, die zur Miete wohnen, in Städten höher und der Anstieg der Mietpreise ist gerade in München besonders gravierend. Auch leben in den bayerischen Städten sehr viele Menschen, die im Niedriglohnsektor oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten.

Armutsgefährdungsquote berücksichtigt bestehendes Vermögen nicht

So gut man mit der Armutsgefährdungsquote auch die Gemengelage von Armut in Bayern beleuchten kann – sie hat noch weitere Schwachstellen, wie Andreas Peichl vom ifo-Zentrum erklärt.

So kann mit ihr beispielsweise keine Aussage getroffen werden, wie verschieden die Armutsgefährdung innerhalb einer Gruppe aussehen kann. Ob nun jemand einen Euro oder 500 Euro unter der Schwelle liegt – für die Quote zählen sie gleich. Demgegenüber wird sich die Situation zweier Menschen, die jeweils einen Euro über und unter der Schwelle liegen, nicht sehr unterscheiden – in der Statistik sind sie klar getrennt: armutsgefährdet und nicht armutsgefährdet.

Viele ältere Menschen in Bayern besitzen Wohneigentum

Dazu kommt: Wenn man über die Armutsgefährdungsquote spricht, dann spricht man automatisch nur von der Einkommensarmut. Nicht berücksichtigt werden andere Faktoren, die für die finanzielle Situation von Menschen aber entscheidend sein können: das verfügbare Geldvermögen, Anlagen, Immobilien, aber auch fixe Belastungen wie Tilgung von Schulden, Unterhaltszahlungen oder Ausgaben aufgrund von Krankheiten.

Gerade in Bayern spielten bestehendes Vermögen und vor allem Wohneigentum eine große Rolle, so Andreas Peichl. "Da kann es Situationen geben, dass Menschen als armutsgefährdet eingeschätzt werden, die ein sehr hohes Vermögen haben, wenn sie eine selbstgenutzte Immobilie in München haben beispielsweise." Haben sie aber kein Einkommen, gelten sie nach Quote als armutsgefährdet.

Das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales hinterfragt genau aus diesem Grund die Aussagekraft der Armutsgefährdungsquote – besonders im Zusammenhang mit Altersarmut. Nach einem Bericht der Bayerischen Staatsregierung, dem Zahlen aus dem Jahr 2018 zugrunde liegen, besitzen in Bayern mehr als 60 Prozent der älteren Menschen Wohneigentum.

Grafik: Welcher Anteil der Menschen in Bayern hat Wohneigentum?

In derselben Statistik wurde auch die Verteilung des bestehenden Vermögens nach Familiensituation untersucht. Diese Zahlen decken sich mit der Armutsgefährdungsquote und legen nahe, dass Menschen mit Kindern und besonders Alleinerziehende stark von Armut bedroht sind, da sie nicht nur weniger Einkommen zur Verfügung haben, sondern auch weniger Rücklagen bilden können.

Grafik: Wie verteilt sich Vermögen in Bayern je nach Familiensituation?

Über die Daten

Alle Daten zu den Armutsgefährdungsquoten werden von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder zur Verfügung gestellt. Diese stellen auch detaillierte Hinweise zur Methodik und zur Aussagekraft der verschiedenen Parameter im Rahmen der Sozialberichterstattung bereit.

Die Daten zum Vermögen entstammen aus dem fünften Bericht der Bayerischen Staatsregierung zur sozialen Lage in Bayern basierend auf Ergebnissen der bundesweit erhobenen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS).

Im Audio: Interview mit Sozialministerin Scharf zum Thema Armut

Sozialministerin Scharf zum Thema Armut
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Ulrike Scharf

Dieser Artikel ist erstmals am 3. Juli 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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