Die Kritik entzündet sich am Besuch der beiden obersten Kirchenvertreter aus Deutschland im Heiligen Land im Herbst 2016. Gemeinsam waren der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche Deutschlands, Heinrich Bedford-Strohm und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx zu einer Pilgerreise nach Israel gereist und hatten unter anderem in Jerusalem die Klagemauer, den Tempelberg und den Felsendom besucht. Dabei - so der Vorwurf in sozialen Netzwerken - hätten die beiden ihre Kreuze abgelegt und somit ihren Glauben, ihre Religion verraten.
Der Vorwurf: Das Christentum unterwerfe sich dem Islam
Die AfD beispielsweise wirft Kardinal Marx in der Debatte um den bayerischen "Kreuz-Erlass" vor, das Christentum nicht offensiv genug zu vertreten. Die "Islamisierung" habe Raum, weil das Christentum kapituliere und das Feld räume, schreibt die Vizechefin der Bundestagsfraktion, Beatrix von Storch auf Twitter. "An der Spitze: Kardinal Marx. Auf dem Tempelberg legt er das Kreuz ab. Und auch in öffentlichen Gebäuden will er es nicht. #DerFischStinktVomKopf #UndZwarGewaltig". Der Tweet wurde über 500 mal geteilt, und bekam 1.200 Likes.
Die konservativ-katholische Publizistin und Gender-Kritikerin Birgit Kelle nennt Marx' Ablegen des Kreuzes auf dem Tempelberg in einem Tweet "eine Unterwerfung" und bekommt dafür fast 500 Likes.
Marx im Talar, Bedford-Strohm im Lutherrock - als christliche Geistliche zu erkennen
Tatsächlich besuchten Marx und Bedford-Strohm am 20. Oktober 2016 die jüdische Klagemauer und den muslimischen Tempelberg mit der Al-Aqsa-Moschee - Marx im Talar, Bedford-Strohm im Lutherrock als christliche Geistliche zu erkennen. Es gibt Agenturbilder vor der Al-Aqsa-Moschee, auf denen die beiden Kirchenvertreter ohne Kreuz zu sehen sind. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die beiden Kirchenvertreter sind mit Kreuz auf den Tempelberg gegangen. Agenturbilder belegen auch das.
Bischöfe nehmen Kreuze an der Klagemauer und in der Al-Aqsa-Moschee ab
Am 6. November 2016 verteidigte der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm diesen Schritt und verwahrte sich dagegen, ihn als Kniefall vor dem Islam zu deuten. Er sei am 20. Oktober den Bitten der muslimischen und jüdischen Zuständigen für die heiligen Stätten der jeweiligen Religionen gefolgt, sagte Bedford-Strohm in Magdeburg am Rande der EKD-Synode. Das Amtskreuz habe an diesen Orten als Provokation empfunden werden können, so der bayerische Landesbischof: "Ich habe die Verantwortung als Vertreter einer christlichen Religion, friedensstiftend zu wirken." Es werde ein anti-islamischer Kulturkampf inszeniert. Die Kritiker würden die Tatsache verschweigen, dass auch an der Klagemauer dem Wunsch der jüdischen Verantwortlichen entsprochen worden sei. Die Reise fand zur Zeit des jüdischen Laubhüttenfestes statt, zu dem in Jerusalem erhöhte Sicherheitsvorkehrungen galten. In einer Erklärung der EKD heißt es dazu wörtlich:
"Die ökumenische Delegation hat bei ihrem Besuch des Felsendoms und der al-Aksa-Moschee (nicht aber des gesamten Tempelbergs) (arabisch: al-haram asch-scharif) im Oktober 2016 darauf verzichtet, das Bischofskreuz zu zeigen. Gleiches haben Sie auch beim Besuch der jüdischen Westmauer (hinlänglich bekannt als 'Klagemauer') getan." Schriftliche Stellungnahme der EKD
Es handle sich dabei "um eine Geste der Zurückhaltung, die angesichts der generell angespannten und in Folge des jüngsten UNESCO-Beschlusses sogar noch verschärften Lage angeraten erschien". Die Besucher aus Deutschland hätten damit deutlich gemacht, ihr Besuch gehe nicht mit Ansprüchen einher, die die schwierige und aufgeheizte Situation weiter belasten könnten. Damit verbunden sei auch das Signal an die Streitparteien aus Jerusalem und im Nahen Osten gewesen: "Nur mit Respekt, Klugheit, Umsicht und Demut ist der Frieden zu erringen. "
Marx: Besuch war nicht gut vorbereitet
Vorsichtiger drückte sich Kardinal Marx im Nachgang aus. Am 11. Dezember sagte Marx im BR-Fernsehen, zur Zeit des Besuches habe auf dem Tempelberg und an der Klagemauer eine "sehr angespannte Situation" geherrscht: "Es ging darum, nicht zu provozieren." Marx fügte hinzu, vielleicht hätte man aufgrund der Brisanz auch darauf verzichten sollen, dort hinzugehen.
"Also ich würde sagen, das war nicht gut vorbereitet. Ich bedaure das sehr. Aber die Reaktion, die dann sagt, sozusagen, das sei Unterwerfung und Verrat find ich dann doch auch beleidigend." Kardinal Reinhard Marx im BR-Fernsehen
Sein Kreuz habe er damals nicht abgenommen, sondern unter den Talar gesteckt. Für ihn stelle sich jetzt die Frage, was man aus diesem Ereignis lernen könne. Er würde auch nicht wollen, dass die grüne Fahne des Propheten Mohammed in der Kirche ausgerollt werde. "Wir lernen daraus, wie sensibel der Umgang der Religionen untereinander weiter ist, wie viel Unverständnis. Ich habe das immer wieder gemerkt, viele von uns wissen von Islam wenig. Wir können davon ausgehen, besonders im Orient, dass fast niemand, auch Juden nicht und Muslime nicht, eine Vorstellung vom Christentum haben, also was das Kreuz bedeutet. Die sehen das als Zeichen der Dominanz, der Kreuzfahrer." Seine Hauptsorge sei, dass Religion in Zukunft wieder instrumentalisiert werde als Mittel für Auseinandersetzungen.