Man muss sich ja nur mal die ersten Takte von Joseph Haydns Schöpfung anhören: Großartig, wie das dissonant komponierte Chaos zum erlösenden Dur des beginnenden Kosmos hin wabert. Überraschend ist das, etwas Neues beginnt. Aus der vollständigen Unordnung entsteht das Universum.
Die SPD vor dem Parteitag
Gesetzt, Josef Haydn hätte die jüngere SPD-Geschichte zu vertonen: Die Vorlage würde nach dem Urknall im vergangenen September ganz gut passen. Da stand die deutsche Sozialdemokratie nach der Bundestagswahl am Abgrund. Es folgten die schwersten Monate in ihrer jüngeren Parteigeschichte. Mit einem Parteivorsitzenden Martin Schulz, dessen kometenhafter Aufstieg und postwendend gnadenloser Absturz beispiellos waren in der Geschichte der Bundesrepublik. Die SPD befindet sich seitdem in einem Vakuum und Chaos.
Andrea Nahles soll es richten
Der Druck und der Wunsch sind also groß, endlich wieder eine Ordnung herzustellen. Etwas Neues soll beginnen. Aus der vollständigen Unordnung soll die SPD krisensicher hervorgehen. Der Startschuss dafür ist heute, auf dem Parteitag in Wiesbaden. Nach 155 Jahren Parteigeschichte werden die 600 Delegierten mit Andrea Nahles aller Voraussicht nach erstmals eine Frau an die Spitze wählen und damit Geschichte schreiben. Zumindest das Damoklesschwert einer 100-Prozent-Wahl dürfte ihr allerdings erspart bleiben, nachdem sich die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange zur Gegenkandidatur entschieden hat - nach Einschätzung von Beobachtern aber doch nur mit Außenseiterchancen.
Wenn das so kommt, wird Andrea Nahles die neue Parteichefin. Wohl wissend, dass die Verunsicherung an der Basis nach wie vor groß ist. Nahles hat das Problem, dass sie auf diesem Parteitag als Hoffnungsträgerin antritt, aber Teil der Führungsmannschaft war, die das Chaos in der SPD zu verantworten hat. Auch ihre forsche, ja zuweilen derbe Art und mangelndes diplomatisches Geschick – all dies wird selbst in der Parteiführung hinter vorgehaltener Hand als kontraproduktiv gesehen.
Erster Schritt auf einem weiten Weg
Andrea Nahles will unter Beweis stellen, dass sie auch anders kann. Sie weiß um die Herausforderung, künftig in einer Reihe zu stehen von August Bebel über Friedrich Ebert, Kurt Schumacher und Willy Brandt bis hin zu Martin Schulz. Sie wird mit personeller und organisatorischer Erneuerung im Willy-Brandt-Haus beginnen und sie hat bereits ein Papier erarbeitet, das ihren Weg zur Erneuerung der Partei bis 2019 aufzeigt. Auf dem Parteitag soll darüber abgestimmt werden. Andrea Nahles will und soll nach dem Wunsch der Parteifreunde die SPD organisatorisch und vor allem inhaltlich grundlegend reformieren. Für letzteres sind vier Themenfelder definiert: Wachstum und Wohlstand, Zukunft der Arbeit, Sozialstaat und Deutschlands Rolle in der Welt.
Viel Zeit bleibt nicht
Die Landtagswahlen in Bayern und in Hessen, aber auch die Europawahl im Frühjahr 2019 werden für die Partei und für die neue Vorsitzende erste Prüfsteine sein. Viel Zeit bleibt Andrea Nahles also nicht. Mit dem Abschluss des Parteitages beginnt nach dem Chaos vielleicht eine neue Ordnung, aber solange diese nicht fertig ist, fürchten selbst Sozialdemokraten, bleibt die SPD anfällig und im Krisenmodus. Die Neuordnung wird trotzdem ihre Zeit brauchen. Das Universum ist ja auch nicht an einem Tag entstanden.