Rechte Demonstranten stehen in Chemnitz vor dem Karl-Marx-Monument, davor sind Polizisten
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Rechte Demonstranten stehen in Chemnitz vor dem Karl-Marx-Monument.

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Chemnitz: Fakten, Fakes und falsche Schlüsse

Chemnitz: Fakten, Fakes und falsche Schlüsse

Wer hat bei den Chemnitzer Demonstrationen den Hitlergruß gezeigt? Gab es "Hetzjagden" auf Ausländer? Ein Ende der Debatte über das, was stattfand und was nicht, ist nicht abzusehen. BR24 rekonstruiert die Faktenlage in drei umstrittenen Fällen.

Von
Max Muth
Bernd Oswald

Auch eineinhalb Wochen nach dem gewaltsamen Tod von Daniel H. kommt Chemnitz nicht zur Ruhe. Zuerst die beiden Demonstrationen rechter Gruppen am Sonntag und Montag nach der Tat, dann am vergangenen Samstag der von AfD und Pegida organisierte sogenannte Trauermarsch, bei dem es wieder zu Ausschreitungen kam. Am Montag dann besuchten 65.000 Menschen ein Konzert gegen Rassismus unter dem Motto "Wir sind mehr".

  • Dieser Artikel stammt aus dem Jahr 2018. Alle aktuellen #Faktenfuchs-Artikel finden Sie hier

Kampf der Bilder

Rund um die verschiedenen Anlässe kursierten im Internet mehrere umstrittene Bilder und Videos. Besonderes Aufsehen erregten etwa Aufnahmen eines Mannes mit Kapuzenpulli, der mit zum Hitlergruß gestrecktem Arm gefilmt wurde. Auf einem Foto desselben Mannes sind die Buchstaben "RAF" zu sehen, was einerseits die Abkürzung der ehemaligen Terrororganisation Rote-Armee-Fraktion ist, aber auch der britischen Luftwaffe Royal Air Force, um nur zwei Beispiele zu nennen. Einige Twitter-Accounts, die tendenziell dem rechten Lager zuzuordnen sind, zogen aus dem RAF-Tattoo den Schluss, der Mann sei ein Linker, der sich in die "Trauerdemo" eingeschleust habe, um sie durch das Zeigen des Hitlergrußes zu diskreditieren. Der Mann mit dem RAF-Schriftzug – ein linker Provokateur?

Der falsche Fake

Einige Medien, unter anderem T-Online und Watson, untersuchten daraufhin die Bilder und glichen sie mit eigenen Videoaufnahmen von der Demonstration ab, auf denen die Buchstaben nicht zu erkennen sind. Deswegen kamen T-Online und Watson zu dem Schluss, es handle sich um eine Bildfälschung. Auch viele anderen Seiten, die Fakes rund um die Demonstrationen in Chemnitz sammelten, nahmen das RAF-Bild in ihre Sammlung auf.

Am Mittwoch ruderten T-Online und Watson jedoch zurück, als weitere Aufnahmen des Mannes auftauchten, die ebenfalls die Buchstaben RAF auf der Hand des Mannes zeigten. Die beiden Redaktionen (Watson gehört wie T-Online zum Ströer-Konzern) nahmen daraufhin die Behauptung zurück, dass es sich um eine Bildfälschung handele und erklärten jeweils in einem Artikel, wie es zu dem Fehler kommen konnte.

Der echte Fake

Klarer ist der Fall bei Jan "Monchi" Gorkow, Sänger der Band "Feine Sahne Fischfilet", dem ebenfalls vorgeworfen wurde, im Vorfeld des "Wir sind mehr"-Konzerts den Hitlergruß gezeigt zu haben. Als "Beweis" postete der NPD-Politiker Sebastian Schmidtke auf Twitter, ein Foto, das Gorkow mit ausgestrecktem Arm zeigt.

Das Bild ist zwar nicht gefälscht, aber völlig aus dem Kontext gerissen. Es stammt aus einem Video, das Gorkow kurz vor dem #wirsindmehr-Konzert in einer Instagram-Story veröffentlicht hat:

Gorkow kündigt in dem Video an, gleich zur Demonstration "Solidarität statt Rassismus" zu gehen und hebt dabei den rechten Arm in die Höhe. Auch die Polizei Sachsen twitterte kurz darauf, dass es sich aus ihrer Sicht bei dem Foto um einen Fake handle.

Hetzjagd oder Jagdszene?

Wie unterschiedlich man die Ereignisse in Chemnitz interpretieren kann, zeigt sich auch an der Diskussion, ob es dort "Hetzjagden" auf Menschen mit Migrationshintergrund gegeben hat. Regierungssprecher Steffen Seibert hatte am 27. August in einer ersten Reaktion auf im Netz kursierende Videos von den Ereignissen des 26. August gesagt, die Bundesregierung nehme "Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder den Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten" nicht hin.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte am 28. August vor laufenden TV-Kameras zu den Ausschreitungen in Chemnitz: "Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, dass es Zusammenrottungen gab, dass es Hass auf der Straße gab, und das hat mit unserem Rechtsstaat nichts zu tun."

Videoaufnahmen einer Gruppe, die rechte Parolen skandierend durch Chemnitz zieht, die gibt es. "Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer" ist nur einer von mehreren eindeutigen Sprüchen, die in den Aufnahmen zu hören sind. Doch nur eine Videoaufnahme zeigt einen klaren Angriff aus der rechten Demo auf einen Menschen, der nicht deutsch erscheint. Das Video wurde von einem Twitterkanal verbreitet, der sich "Antifa Zeckenbiss" nennt. Darin zu sehen ist, wie ein Mann aus der Gruppe der Rechten einem anderen Mann nachstellt und versucht, ihn zu treten.

Die Abwesenheit weiterer Videobeweise nutzen rechte Kreise seitdem, um eine Debatte darüber anzuzetteln, was nun eine Hetzjagd ist und was nicht, und ob der Plural der Kanzlerin ("Hetzjagden") angebracht war. Es gibt keine juristische Definition des Worts, darum bleibt Spielraum für Interpretationen.

Der Journalist Johannes Grunert ist sich sicher: Der Plural war angebracht: Der Reporter, der unter anderem für ZEIT-Online schreibt, hat den ersten Marsch von Hooligans und Rechten am Sonntag als Reporter begleitet. Grunert sagt, rund um die gefilmte Szene habe es weitere Angriffe der Rechten auf Menschen gegeben, die sie für Migranten hielten. Die Diskussion darüber, ob das, was er erlebt habe, tatsächlich stattgefunden hat, hält er für absurd. Doch die Frage ist längst eine politische geworden.

Der AfD-Bundestagsabgeordnete Leif-Erik Holm stellte am vergangenen Freitag eine schriftliche Frage an die Bundesregierung, in der er wissen wollte, auf welcher Faktenbasis Seibert von "Hetzjagden" in Chemnitz gesprochen habe.

Kampf um Worte

Holm kann sich bei seiner Argumentation unter anderem auf die "Freie Presse" berufen. Deren Chefredakteur hatte in einem kurzen Artikel geschrieben, seine Redaktion verwende den Begriff "Hetzjagd" nicht, weil das bedeuten würde, dass Menschen andere Menschen längere Zeit vor sich hertreiben, und dafür habe er keine Belege gesehen. "Jagdszenen" halte er aber für gerechtfertigt.

In der Bundespressekonferenz vom Montag wurde Seibert erneut nach den Hetzjagden gefragt. Diesmal ließ er den Begriff weg, blieb jedoch bei seiner grundsätzlichen Beurteilung: "Es bleibt aber dabei, dass Filmaufnahmen zeigen, wie Menschen ausländischer Herkunft nachgesetzt wurde und wie sie bedroht wurden. Es bleibt dabei, dass Polizisten und Journalisten bedroht, zum Teil auch angegriffen wurden. Es bleibt dabei, dass es Äußerungen gab, die bedrohlich waren, nah am Aufruf zur Selbstjustiz. Also da gibt es aus meiner Sicht auch nichts kleinzureden."

Eine "semantische Debatte über ein Wort" will Seibert nicht führen. Das übernehmen derweil andere: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) kommentierte die Chemnitzer Ausschreitungen in seiner Regierungserklärung am Mittwoch so: "Klar ist: Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome". Diese Interpretation ist Wasser auf die Mühlen der AfD. Kretschmers Worte waren kaum gesagt, da gab es auf Twitter zahlreiche Tweets aus dem AfD-Lager, die der Regierung und auch den Medien, die über das "Hetzjagd"-Zitat berichtet hatten, explizit "Fake News" vorwarfen.

Die offizielle Antwort auf die schriftliche Frage von Holm steht noch aus, solche Anfragen von Parlamentariern werden gewöhnlich bis eine Woche nach Eingang schriftlich beantwortet.