Wie schafft man es im Ukraine-Krieg, möglichst viele Menschen vor den russischen Bomben in Sicherheit zu bringen? Im belagerten Mariupol hatte die russische Armee schon am Sonntag einen Fluchtkorridor in Aussicht gestellt. Doch dann wurde die Waffenruhe entlang des Korridors gebrochen. Beide Seiten beschuldigten sich anschließend gegenseitig.
Keiner konnte über eine sichere Route fliehen, zumal die russische Seite die Zivilbevölkerung ausschließlich nach Belarus und Russland lenken wollte. Das aber lehnte die ukrainische Regierung ab. Sie forderte Fluchtkorridore in Richtung Westen.
Am Dienstag schließlich gelang es einigen Tausend Zivilisten aus Sumy erstmals über eine sichere Fluchtroute die belagerte Stadt in Richtung Westen zu verlassen. Die russische Armee hielt sich zwölf Stunden lang an die versprochene Waffenruhe. Auch am Mittwoch wurde der Fluchtkorridor geöffnet. Doch was sind Fluchtkorridore? Wer verhandelt über diese? Und welche Risiken bieten sie?
Was sind Fluchtkorridore?
Fluchtkorridore sind für die Zivilbevölkerung in einem Krieg manchmal die einzige Rettung, aber auch eine große Gefahr. Dabei handelt es sich um von den Kriegsparteien festgelegte Routen, auf denen Menschen aus der Zivilbevölkerung ein Gebiet sicher verlassen können sollen und in Gegenrichtung humanitäre Hilfe in die umkämpften Gebiete transportiert werden kann. In der Theorie werden diese Routen dann für eine bestimmte Zeit von jeglichen Kampfhandlungen ausgespart.
UN-Generalsekretär Antonio Guterres etwa sprach auf Twitter von einer absolut notwendigen Feuerpause in der Ukraine, um Zivilisten aus Mariupol, Kharkiv, Sumy und anderen umkämpften Gebieten eine sichere Flucht zu ermöglichen. Aber auch, um lebenswichtige humanitäre Güter in die belagerten Städte bringen zu können.
Die Lage in Mariupol wird nach der Zerstörung der Infrastruktur von Vertretern des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) als apokalyptisch beschrieben. Die Menschen lebten ohne Essen, Wasser, Heizung oder Strom. "Genau wie andere in der Ukraine brauchen sie dringend die Erlaubnis, die Stadt auf sicherem Weg zu verlassen, wenn sie das wollen", so ein Sprecher des ICRC auf Anfrage des BR. Die Menschen bräuchten außerdem humanitäre Hilfe. Das sei keine Option, so der Sprecher, sondern "nach internationalem humanitärem Recht für die Kriegsparteien verpflichtend".
Der UNHCR meldet die Bereitstellung von Hilfsgütern und will sie ausliefern, sobald eine sichere Durchfahrt möglich sei. Solche Korridore seien wichtig, um die sichere Ausreise von Zivilisten aus den Konfliktgebieten zu erleichtern, antwortet eine Sprecherin des UNHCR Deutschland auf Anfrage des BR. Millionen von Menschen seien dringend darauf angewiesen, sowie auf lebensrettende humanitäre Hilfe und Schutz.
Wer verhandelt über die humanitären Fluchtkorridore?
Eingebunden in die Verhandlungen um solche Korridore ist das Internationale Komitee des Roten Kreuzes. Dessen Präsident Peter Maurer sagte im Deutschlandfunk, das ICRC arbeite seit Tagen daran, die Militärs beider Seiten zusammenzubringen. In den Gesprächen käme es darauf an, im Detail die Fluchtrouten, die genauen Zeitpunkte sowie das Verhalten der Militärs beider Fronten zu besprechen. "Es ist außerordentlich wichtig, dass diese Abmachungen gelingen, weil die militärischen Verbände stehen nah beieinander und die kleinste Unsicherheit, wie wir das in den letzten Tagen gesehen haben, führen augenblicklich wieder zu Schusswechseln und das wiederum verunmöglicht die Fluchtrouten", sagt ICRC-Präsident Peter Maurer im Deutschlandfunk.
Vereinbarungen über Fluchtkorridore sind nach Aussage von Maurer außerordentlich komplexe Abmachungen und "ausgesprochen schwierig". So müssten neben der Einhaltung der Feuerpause auch logistische Fragen geklärt werden, etwa wie die Flüchtenden transportiert werden. Außerdem wollen humanitäre Organisationen wie das Rote Kreuz parallel zu den Fluchtkorridoren Hilfsgüter in die belagerten Städte bringen.
Welche Risiken und Probleme gibt es bei Fluchtkorridoren?
Der Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes Christian Reuter warnte im ZDF vor den Risiken von Fluchtkorridoren. Einerseits sei es gut, wenn möglichst viele Menschen gerettet werden könnten. Aber eine Konsequenz sei auch, dass alle, die bleiben, zum Angriffsziel würden. Den Regierungen gehe es "nicht in erster Linie darum, Menschen zu retten". Vielmehr sei es ein militärisches Instrument, um anschließend ungenierter und ungehemmter in die "Konfliktlage hineinschießen, hineinbombardieren zu können". Darum bezeichnet DRK-Generalsekretär Reuter Fluchtkorridore im ZDF als "durchaus zweischneidig".
Die Skepsis beruht auf Beobachtungen der vergangenen Jahrzehnte. In Tschetschenien wie in Syrien schuf das russische Militär Fluchtkorridore und legte die Städte wie Grosny oder Aleppo anschließend in Schutt und Asche. Im tschetschenischen Grosnyj bombardierte das russische Militär rund um die Jahrtausendwende auch zivile Einrichtungen, genau wie jetzt in der Ukraine. Auch ein vereinbarter humanitärer Korridor wurde bombardiert. Schließlich forderte das russische Militär die Zivilbevölkerung ultimativ auf, die Stadt zu verlassen. Grosnyj wurde im Anschluss vollkommen zerstört.
Auch im syrischen Aleppo gab es 2016 mehrfach Feuerpausen, um Zivilisten die Flucht zu ermöglichen. Danach folgten schwere Angriffe der syrischen Armee und der russischen Luftwaffe auf die von Rebellen kontrollierte Stadt und schließlich gewann das Assad-Regime die Kontrolle über die Stadt. Auch im Syrien-Krieg wurde ein humanitärer Hilfskonvoi aus der Luft bombardiert.
Militär-Experten vermuten deshalb hinter den Fluchtkorridoren, die die russische Armee in der Ukraine einrichtet, vor allem ein militärisches Kalkül. Im Zuge der Feuerpause können Truppen umgruppiert werden. Und die Zivilisten, die in der Stadt verbleiben, werden als vermeintliche "Rebellen" gnadenlos zum Abschuss freigegeben. In Syrien etwa wurde der Beschuss Krankenhäusern vielfach dokumentiert.
Was steht in der Genfer Konvention zu Fluchtkorridoren?
Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet alle Konfliktparteien, die Zivilbevölkerung, aber auch verwundete Soldaten oder Gefangene zu schützen. Zivile Krankenhäuser dürfen beispielsweise "unter keinen Umständen das Ziel von Angriffen sein". So steht es in Artikel 18 im "Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten" von 1949.
Darüber hinaus ermöglicht das Abkommen die Einrichtung von Schutzzonen für Verwundete, Kranke oder unbeteiligten Zivilisten, vor allem gebrechliche Personen oder schwangere Frauen. Zu Fluchtkorridoren heißt es in Artikel 17: "Die am Konflikt beteiligten Parteien werden sich bemühen, örtlich begrenzte Übereinkünfte zur Evakuierung der Verwundeten, Kranken, Gebrechlichen, Greise, Kinder und Wöchnerinnen aus einer belagerten oder eingeschlossenen Zone … zu treffen, die sich auf dem Wege nach dieser Zone befinden."
Das Problem ist, dass es keine unabhängige Instanz gibt, die die Achtung dieser Korridore durchsetzen könnte.
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