Die Bürger in Bayern und Hessen haben vor einem Monat gewählt. Beide Landtagswahlen endeten mit zweistelligen Ergebnissen für die AfD und damit mit einem politischen Rechtsruck. Gleichzeitig befürworten laut einer kürzlich veröffentlichten Studie mehr als sechs Prozent der Menschen in Deutschland eine Diktatur. "Man merkt leichte Anfänge von Weimar", warnte Markus Söder auf dem CSU-Parteitag im September mit Blick auf den Zustand der Demokratie. Er meinte damit die Weimarer Republik, die 1933 zerbrach – und bereits vor genau 100 Jahren kurz vor dem Ende stand. Hat er Recht?
Vor 100 Jahren: Hitlerputsch
Es ist der Abend des 8. November 1923. Der Beginn des Hitlerputsches. Adolf Hitler greift zur Pistole und schießt in die Decke des Bürgerbräukellers in München. So verschafft er sich Gehör. Im Bierkeller halten Teile der bayerischen Staatsregierung gerade eine Versammlung ab. Hitler zwingt sie, ihn zu unterstützen: Er will die Demokratie in Deutschland stürzen.
"Es gibt Parallelen zwischen 1923 und 2023", sagt der Historiker Paul-Moritz Rabe, der die Forschung am NS-Dokumentationszentrum München leitet. Wer die beiden Jahre gleichsetze, mache es sich aber zu einfach.
Erste Parallele: Inflation
Eine Parallele zwischen dem Jahr 1923 und heute ist die Geldentwertung. Die Inflation ist so hoch wie nie seit der Wiedervereinigung: 2022 stiegen die Verbraucherpreise im Vergleich zum Vorjahr um 6,9 Prozent. Im September lagen sie 4,5 Prozent höher als im Vorjahresmonat. Besonders beim Einkaufen, Tanken und Heizen ist das spürbar. Das hat politische Folgen: "Wirtschaftskrisen wirken damals wie heute radikalisierend", so Historiker Rabe. Abstiegsängste nähren die Sehnsucht nach einfachen Antworten und Erlöserfiguren. Und sie wirken in politischen Diskussionen polarisierend – aktuell etwa in der Debatte ums "Heizungsgesetz".
Mehr noch: "Sobald es den Menschen ans Geld geht, hinterfragen sie das große Ganze", sagt Rabe. Wenn die Wirtschaft in der Krise steckt, kann das also das Vertrauen in die Demokratie insgesamt erschüttern. So geschehen 1923. "Ein Aufstand des ganzen Volkes, ein Bürgerkrieg schien unvermeidlich", notierte damals etwa die Journalistin und überzeugte Demokratin Paula Schlier. Dem Hitlerputsch voraus ging eine soziale Not, die Zweifel am politischen System säte. Als Schlier in der "Hungerzeit" 1923 durch München lief, traf sie auf unzählige Kriegsversehrte, Arbeitslose und abgemagerte Kinder. Auch sie selbst wusste nicht, wie sie sich einen Laib Brot leisten sollte. Im Oktober kostete ein Brot mehrere Millionen Reichsmark – vier Wochen später waren es bereits mehrere Milliarden.
Das ist zugleich ein entscheidender Unterschied: Die Weimarer Republik rauschte 1923 in eine Hyperinflation. Mit Teuerungsraten von über 50 Prozent – davon sind wir heute weit entfernt.
Zweite Parallele: Multiple Krisen
Den Jahren 1923 und 2023 gemeinsam ist das Gefühl, in mehreren Krisen gleichzeitig zu stecken. Neben wirtschaftlichen Krisen sind dies heute beispielsweise die Klimakrise, die gerade erst überwundene Coronakrise, der Krieg in Europa – und nun auch wieder im Nahen Osten. "Ein solches Krisengefühl war auch in der Weimarer Republik deutlich zu spüren", so Historiker Rabe. Neben der Wirtschaftskrise waren es damals die Folgen des Ersten Weltkriegs oder auch das Erstarken des Faschismus im Nachbarland Italien.
Gleichzeitig sind beide Jahre gekennzeichnet durch eine nie da gewesene gesellschaftliche Öffnung. In den 1920er-Jahren hatten Frauen gerade das Wahlrecht erkämpft und Großstädte wurden zu Orten sexueller Freiheit. Eine Parallele zu heute: Von der Ehe für alle bis zu geschlechtergerechter Sprache bewegt sich die Gesellschaft in Sachen Gleichberechtigung. Das gefällt nicht jedem: "Die gesellschaftliche Öffnung wirkt für die einen befreiend – und ist für andere Teile der Gesellschaft ein Faktor der Verunsicherung", sagt Rabe mit Blick auf damals wie heute.
Dritte Parallele: Rechtsruck
Vor 100 Jahren jubelten Tausende den menschenverachtenden Parolen Adolf Hitlers und der von ihm geführten NSDAP zu. "Die Straßen waren schwarz vor eilenden Menschen", erinnert sich die Autorin Paula Schlier an jene Abende im München der 1920er-Jahre, an denen Adolf Hitler in einem der vielen Bräuhäuser eine Rede hielt. Die junge Autorin ist von dieser Massenbegeisterung so schockiert, dass sie beim Völkischen Beobachter, dem NSDAP-Parteiblatt, als Stenotypistin anheuert. Denn sie will die nationalsozialistischen Rattenfänger entlarven – eine der ersten investigativen Recherchen im deutschsprachigen Raum.
Und heute? "Der rechte Rand wird lauter und die Unterstützung für die Demokratie schwindet", sagt Historiker Rabe. Die Zahl der Befürworter rechtsextremer Einstellungen hat sich zuletzt gegenüber den Vorjahren verdreifacht. Zu diesem Ergebnis kommt die sogenannte Mitte-Studie. Acht Prozent der Menschen in Deutschland haben ein rechtsextremes Weltbild. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Oktober wurde die AfD Oppositionsführerin. Der Verfassungsschutz stuft die Partei als rechtsextremistischen Verdachtsfall und in Teilen als gesichert extremistisch ein.
Warum der Blick auf 1923 auch Hoffnung macht
"Der Vergleich der Jahre 1923 und 2023 taugt als Warnhinweis", sagt Historiker Rabe. Gleichzeitig sollte nicht aus dem Blick geraten, dass der Hitlerputsch scheiterte und auf das Krisenjahr der noch jungen deutschen Demokratie eine Zeit der wirtschaftlichen Erholung und kulturellen Blüte folgte: die Goldenen Zwanziger.
Der Blick in die Weimarer Zeit zeigt also auch, dass eine Demokratie Krisen überwinden kann. Der Regierung gelang es 1923, mit einer Währungsreform die Hyperinflation zu beenden. Die Wirtschaft erholte sich. Und die radikalen Kräfte wurden leiser, während die Demokratie, zumindest kurzzeitig, an Rückhalt gewann. "Wer damals mit heute vergleicht, erkennt sowohl Parallelen, die einem Angst einjagen – als auch solche, die Hoffnung geben", sagt Rabe. Denn Demokratien seien fragil. Aber sie zerbrechen nicht zwangsläufig.
- Zum BR-Podcast: "Paula Schlier und der Hitlerputsch 1923"
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