Dieser Artikel ist der fünfte Teil der #Faktenfuchs-Serie zur Windkraft. In den vergangenen Wochen wurden wöchentlich Faktenchecks zu Behauptungen rund um die Windkraft veröffentlicht.
Die anderen Teile über Laufzeit, Effizienz und die Gefahr für Wildvögel können Sie hier nachlesen.
Darum geht es in diesem #Faktenfuchs:
- Vertikale Windräder sind bisher ein Nischenprodukt – weniger leistungsfähig und effizient als Horizontalachser
- Laut Experten haben sie aber auch Vorteile: Sie sind leiser und müssen nicht nach dem Wind ausgerichtet sein
- Vertikalachser könnten daher in Zukunft neue Standorte erschließen und dezentral Strom zum Eigenverbrauch produzieren
Vor dem Hintergrund der Klimakrise und der Energiekrise hat die Bundesregierung beschlossen, erneuerbare Energien massiv auszubauen. Wie genau das im Bereich der Windkraft aussehen und gelingen kann, darüber diskutieren auch die Userinnen und User im Netz:
"Die Zukunft der Windenergie ist vertikal, leiser, ohne Schlagschatten und kann auf Dächern in der Stadt gebaut werden", behauptet ein User auf Twitter. Ein anderer schreibt: "Gibt noch Vertikal-Windräder, würden sich bestimmt auch hier und da anbieten. Habe ich in Hoyerswerda mal auf einem Gebäude in live gesehen. Macht keinen Krach und keinen Schlagschatten."
Doch inwiefern können vertikale Windräder tatsächlich zur Energieversorgung beitragen? Der #Faktenfuchs hat die Behauptungen geprüft.
- Dieser Artikel stammt aus 2022. Alle aktuellen #Faktenfuchs-Artikel finden Sie hier
Geringe Leistung und kleiner Anteil am Windkraftmarkt
Sogenannte Vertikalachser sind Windräder, deren Rotorblätter um die vertikale Achse rotieren. Die heute erhältlichen Anlagen haben zwei oder mehr Rotorblätter und sind in der Regel bis maximal 20 Meter hoch. Vertikale Windräder sind also relativ klein. Die Nennleistung der einzelnen Anlagen liegt laut Bundesverband WindEnergie e.V., in dem Hersteller und Betreiber von Windkraftanlagen organisiert sind, zwischen fünf und 150 Kilowatt. Das sei relativ wenig - sie kommen etwa auf Segelbooten zur Batterieladung zum Einsatz, auch auf Hausdächern produzieren sie Strom.
Die Anlagen gebe es also bereits zu kaufen, aber bisher eher als Nischenprodukt: "Der Anteil am Gesamtmarkt ist noch sehr, sehr klein", sagt Holger Lange, Professor für Strukturen von Windenergieanlagen an der Hochschule Bremerhaven im Gespräch mit dem #Faktenfuchs.
Torsten Faber, Professor für Windenergietechnik an der Hochschule Flensburg, präzisiert im Gespräch mit dem #Faktenfuchs, in welchen Fällen Vertikalachser sinnvoll sein können: "So eine Anlage ist nur dann wirtschaftlich, wenn ich den Strom selber verbrauche. Wenn ich ihn einspeise ins Netz, dann erhalte ich einfach zu wenig Cent pro Kilowattstunde, als dass sich das lohnen würde."
Moderne Horizontalachser hingegen - also die Anlagen, die man in Windparks sieht - sind meist mehr als 200 Meter hoch und produzieren Strom im zweistelligen Megawatt-Bereich: "Das sind richtige große Kraftwerke. Da können Sie mit einer Anlage 50.000 Haushalte mit Strom versorgen", sagt Holger Lange.
Weniger effizient als Horizontalachser
Ein Vertikalachser produziert also weit weniger Strom als ein Horizontalachser - und ist dabei weniger effizient. Das bestätigt auch Claudia Kemfert, Wirtschaftswissenschaftlerin und Energieexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.
Aber: "Kleinvieh macht auch Mist", sagt Kemfert. Sie forscht zur Energiewende, berücksichtigt dabei aber bislang vor allem die leistungsstarken Horizontalachser. Dennoch, sie selbst sehe immer häufiger Vertikalachser – etwa auf dem Bahnhof Südkreuz in Berlin oder auf Supermärkten: "Das halte ich für richtig, dass da zumindest so eine ergänzende Ausbeute mit hinzugeholt wird, auch wenn man da eben nicht die Riesenmengen hat."
Immer im Wind: Vorteil…
An genau solche Orten mitten in der Stadt, wie Kemfert sie als Beispiele nennt, können die Vertikalachser punkten. "In turbulenten Stadtgebieten ist ein Vertikalachser deutlich im Vorteil", sagt Professor Lange aus Bremerhaven. Denn diese Anlage könne Wind aus jeder Richtung aufnehmen - also auch dort, wo sich der Wind häufig dreht. Horizontalachser hingegen müssten stets nach dem Wind ausgerichtet werden – ein erheblicher Aufwand.
…und Nachteil zugleich
Zugleich aber können Horizontalachser etwa bei Sturm aus dem Wind gedreht werden. Das ist wiederum bei Vertikalachsern nicht möglich. Sie seien deshalb größeren physikalischen Kräften ausgesetzt, denen sie standhalten müssen, erklärt Torsten Faber.
Unternehmen entwickeln größere, effizientere Vertikalachser
Verschiedene Unternehmen entwickeln bereits größere vertikale Windräder. Es handelt sich jedoch noch um Prototypen. Sie sollen auch in größerer Höhe dem Wind und den Fliehkräften standhalten können und dabei effizienter und mehr Strom produzieren.
Das deutsche Start-up German Sustainables arbeitet hierfür mit Bremsklappen, ähnlich wie beim Flugzeug. Die Schweizer Firma Agile Wind Power hingegen entwickelte eine Technologie, bei der jedes Rotorblatt kontinuierlich nachgeführt und zum Wind ausgerichtet wird.
Eine "Innovation" sagt Torsten Faber, der den Prototypen im Auftrag von Audi begutachtete. Der Stand der Forschung und der Technik sei aber noch nicht so weit wie bei Horizontalachsern. Die neuen vertikalen Windräder sollen bis zu 100 Meter hoch werden und bis zu 750 Kilowatt Strom produzieren. Damit könne etwa ein Drittel bis die Hälfte des Strombedarfs einer Kläranlage gedeckt werden, sagt Agile Wind Power-Chef Patrick Richter im Gespräch mit dem #Faktenfuchs.
Leiser und weniger Schlagschatten?
Beide Firmen werben mit angeblichen Vorteilen der neuen Vertikalachser: leiser als Horizontalachser soll etwa der Agile-Prototyp sein. Außerdem soll er weniger störenden Schlagschatten produzieren und weniger gefährlich für Wildvögel sein, ergänzt Richter. Noch nicht alle Versprechen lassen sich schon durch Forschung oder in der Praxis unabhängig überprüfen.
Eine geringere Lautstärke lasse sich physikalisch erklären, sagt Torsten Faber: Die Geräuschemission herkömmlicher Windräder entstehe dadurch, dass die Blattspitzen sich sehr schnell bewegen - mit einer Geschwindigkeit von rund 300 Kilometern pro Stunde. Beim Vertikalachser hingegen gibt es keine Blattspitze. Der gesamte Flügel bewege sich aus dem Umfang mit gleicher Geschwindigkeit und drehe insgesamt langsamer. Generell seien Vertikalachser daher leiser als Horizontalachser. Zu diesem Schluss kommt auch eine Studie der schwedischen Uppsala-Universität von 2015.
Hinsichtlich der Lautstärke müsse allerdings auch noch der sogenannte Körperschall untersucht werden, also die Eigengeräusche, die etwa das Getriebe erzeugt und die über den Boden weitergeleitet würden, gibt Torsten Faber zu bedenken: "Jetzt muss man in der Praxis ausprobieren, ob es auch tatsächlich so ist, dass die Geräuschemission geringer ist".
Keinerlei Forschung gibt es hinsichtlich des Schlagschattens. Aufgrund der kompakten Bauweise sei der Schattenwurf weniger flackernd als bei Horizontalachsern, vermutet Faber. "Da habe ich dann einen permanenten Schatten, der vielleicht eine ganz leise Frequenz hat. Die werde ich aber wahrscheinlich gar nicht wahrnehmen", ergänzt Holger Lange. Studien dazu seien geplant, heißt es von Herstellern. Die müssten zusätzlich von unabhängigen Forschungsinstituten bestätigt werden, so Lange.
Vogelschutz: Weitere Forschung nötig
Was die Gefahr für Vögel angeht, prüfte die Schweizer Vogelschutzwarte Sempach 2015 einen Vorläufer des heutigen Agile-Prototyps. Die Vogelschützer kamen zu der Einschätzung, dass der Vertikalachser für Vögel weniger gefährlich sein könnte als eine konventionelle Windturbine. "Das Risiko direkter Kollisionen dürfte durch die Bauweise und die geringere Drehgeschwindigkeit der Rotoren weniger hoch sein als bei herkömmlichen Anlagen mit Rotorspitzen, die riesige Flächen überstreichen, bei welchen die Vögel die drohende Gefahr unter Umständen nicht abschätzen können", schreibt die Vogelwarte in ihrer Antwort an den #Faktenfuchs.
Die Standortwahl sei aber von großer Bedeutung: In der Regel seien Standorte mit hoher baulicher oder technischer Vorbelastung zu bevorzugen, wie Industrie- und Gewerbegebiete, die ohnehin schon weniger Lebensraum für Vögel böten.
Laut dem Kompetenzzentrum Naturschutz und Energiewende (KNE) ist für eine Beurteilung des Vogelschutzes weitere Forschung notwendig: "Für eine verlässliche artenschutzfachliche Einschätzung von Anlagen unterschiedlichen Typs und Größe wäre es notwendig, weitere unabhängige wissenschaftliche Studien zur Naturverträglichkeit durchzuführen", schreibt das KNE.
Einfachere Herstellung und Transport
Einen weiteren Vorteil neben dem geringeren Lärm sieht Torsten Faber darin, dass die Rotorblatt-Fertigung einfacher sei. Denn die Blätter seien - anders als bei Horizontalachsern - über die gesamte Länge der gleichen Geschwindigkeit ausgesetzt und würden nicht getwistet. Die Firma Agile Wind Power sagt außerdem, Transport und Aufbau der kleineren Bauteile seien "ohne Sondertransporte oder Spezialkräne" möglich.
Hoffnung auf größere Akzeptanz
Aus diesen Gründen hält der Bundesverband WindEnergie e.V. es für möglich, dass es künftig mehr vertikale Windräder geben wird und schreibt in einer Mail an den #Faktenfuchs: "Generell zeichnen sich Vertikalläufer dadurch aus, dass sie insgesamt geräuschärmer sind. Möglicherweise würde ihnen also in der Planungsphase größere Akzeptanz entgegengebracht. Anlagen dieser Bauweise würden sich auch für die Aufstellung in bewohnten Gebieten eignen."
Auch Claudia Kemfert geht nach jetzigem Kenntnisstand davon aus, dass Vertikalachser sozialverträglicher sein könnten: "Einfach weil die Rotoren natürlich auch kleiner sind und die Anlagen nicht so stark in die Landschaft hineinragen." Für die Energiewende könnten vertikale Windräder daher ein Baustein sein, "weil wir alle Lösungen brauchen, auch gerade dezentral, wenn das die Akzeptanz erhöhen kann. Und die ist bei diesen Vertikalachsern, denke ich, größer".
Die Entwickler der Vertikalachser hoffen deshalb auf Zuspruch bei Anwohnern und wollen neue Standorte für die Windkraft erschließen: Orte, die bisher aufgrund von Abstandsregeln und Lärmvorschriften nicht für herkömmliche Windräder in Frage kamen. Etwa Kläranlagen, die viel Strom bräuchten und oft nur wenige Hundert Meter von Siedlungen entfernt sind. Auch Bauernhöfe, produzierende Industrie oder Rasthöfe könnten so mit Strom versorgt werden.
Dezentral produzierter Ökostrom zum Eigenverbrauch - so fasst Torsten Faber den potentiellen Markt zusammen. Quasi "als Ergänzung zu Photovoltaikanlagen", sagt Holger Lange.
Serienreife fehlt noch
Ob und wann das gelingt, ist noch unklar, denn noch sind die größeren Vertikalachser nicht reif für die Serienproduktion. Im November 2020 wurde der erste Prototyp des Schweizer Start-ups bei einem Sturm schwer beschädigt. Seit Ende Juni läuft der Probebetrieb mit dem überarbeiteten, zweiten Prototypen. In etwa eineinhalb Jahren will die Firma die ersten Anlagen ausliefern.
Der deutsche Wettbewerber German Sustainables baut derzeit seine Pilotanlage in Stralsund. Nach der Fertigstellung soll der Testbetrieb zur Zertifizierung in Dithmarschen beginnen. Im ersten Quartal 2023 soll die Serienfertigung anlaufen.
"Das nächste Jahr wird auf jeden Fall sehr spannend", sagt Windenergie-Professor Faber. Die Pilotanlagen müssten jetzt zeigen, dass die Technik funktioniere und die entsprechende Leistung erbracht werde.
Vertikalachser: Nur ein möglicher Baustein für die Energiewende
Schon jetzt berichten die Unternehmen von vielen Interessenten, darunter auch große Industrieunternehmen. So führt etwa die Volkswagen AG an zwei Standorten eine Machbarkeitsstudie durch und prüft, ob die Vertikalachser dort für den Konzern Strom produzieren könnten.
Könnten Vertikalachser gar herkömmlichen Horizontalachsern, wie etwa in Offshore-Windparks, künftig Konkurrenz machen?
In absehbarer Zeit nicht – da sind sich die Experten einig. "Die Horizontalachser-Anlagen sind so effizient, durchgestylt und gut mittlerweile, dass sie nicht mehr abgelöst werden von einem anderen Prinzip, definitiv nicht", meint Professor Lange. Vertikalachser seien aber "ein guter Baustein für die Zukunft".
Fazit:
Bisher spielen Vertikalachser laut der vom #Faktenfuchs befragten Experten keine große Rolle auf dem Windenergiemarkt. Kleinere Anlagen für Hausdächer gibt es zwar bereits zu kaufen, sie bringen aber relativ wenig Ertrag und sind weniger effizient als Horizontalachser. Die Anlagen rechnen sich daher lediglich zum Eigenverbrauch, nicht zur Einspeisung - ergänzend zu Photovoltaikanlagen.
Wissenschaftler und Unternehmer sehen aber Potenzial in der Technik, da Vertikalachser nicht in Richtung des Windes ausgerichtet werden müssen, sich langsamer drehen und daher möglicherweise leiser sind. Damit könnten auch Standorte in Ortschaften für Windkraft erschlossen werden.
Zur tatsächlichen Lärmbelastung bedarf es jedoch noch weiterer Untersuchungen und auch hinsichtlich des Vogelschutzes braucht es noch Forschung.
Einer leistungsstärkeren und effizienteren Generation von Vertikalachsern fehlt außerdem noch die Serienreife.
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