Das geschminkte Gesicht der Sängerin Anohni in Nahaufnahme
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Anohni aus New York, Künstlerin und Feministin: "Ich denke, dass ich da wesentlich mehr bewegen kann als im maskulinen Lager", sagt sie.

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Der Engel ist gelandet: Neues Album von Anohni And The Johnsons

Die Transgender-Künstlerin Anohni ist Songschreiberin und Multimedia-Künstlerin, ist Elfe im Körper eines Holzfällers, Kritikerliebling und Sängerin. Nach 13 Jahren Pause gibt's nun ein neues Album von ihr: "My Back Was A Bridge For You To Cross".

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Alben von "Anohni And The Johnsons", früher mal "Antony And The Johnsons", sind immer ein Ereignis. Für manche sind sie aber ein klein wenig enttäuschend, weil die Songs der 51-Jährigen nicht ins klassische Strophe-Refrain-Schema passen. Es sind offene Liedformen, die Anohni ein wenig exzentrisch und wunderbar theatral zelebriert, die Stimme engelsgleich zwischen den Geschlechtern switchend, zwischen Tenor und Countertenor.

Songs, die auskommen ohne den Und-jetzt-alle-Moment

Nicht von ungefähr erinnert der Künstlername Anohni ja an Anonymus oder Anonyma, ein Unsichtbarer, eine Autorin, die ungenannt bleiben will. Auch auf "My Back Was A Bridge For You To Cross" hat es wieder Lieder, die ohne den Und-jetzt-alle-Moment auskommen – hinreißend sind diese neuen Songs trotzdem.

"It Must Change" heißt der Aufmachersong des Albums, der die Richtung vorgibt – ein großes Lied, bei dem nicht klar ist, wann Anohni die Titelzeile singt. Zudem weiß auch die Sängerin, dass sich nur wenig ändern wird, ihr Gesang legt diesen Schluss nahe. Ihr ist aber klar, dass ihr Appell richtig, nötig und wahrhaftig ist. "It Must Change" erinnert in seiner Bedingungslosigkeit an Rilkes "Du musst Dein Leben ändern".

Fantastische Lieder, leichthändig hingeworfen

Dazu groovt und swingt die Band jazzig-unbeschwert, dass es eine Freude ist: Der Schlagzeuger zitiert Motown-Soul, die Musik von Marvin Gaye und Nina Simone, Helden des schwarzen Amerika, von deren rebellischem Wesen sich Anohni diesmal inspirieren ließ.

Offene Songformen sind gar nicht mal so ungewöhnlich im Pop. Bob Dylan, Meister der geschlossenen Form, hat in den 1960er-Jahren ein Album ausschließlich mit Liedern ohne Refrain veröffentlicht (das allerdings floppte). "Stairway To Heaven" und "Bohemian Rhapsody", zwei der berühmtesten Beispiele Grenzen sprengenden Liedguts, schafften es in der Beliebtheitsskala weit nach vorne.

Auf "My Back Was A Bridge For You To Cross" gelingen Anohni fantastische Songs. Sie wirken spontan, wie mit leichter Hand hingeworfen. Die Texte drehen sich um fluide Geschlechteridentitäten, um Personen, die nicht in Schubladen passen und um den menschengemachten Klimawandel. Anohni stellt Zusammenhänge her: So wie wir mit Individuen umgehen, die nicht in vorgefügte Normen passen, so behandeln wir auch die Umwelt.

"Ich habe das Gefühl, dass es eine gute Zeit für einen Perspektivwechsel ist", sagt Anohni, "genau wie es für mich eine gute Zeit ist, mich den femininen Archetypen anzunähern. Ich denke, dass ich da wesentlich mehr bewegen kann als im maskulinen Lager, das immer noch verzweifelt darum kämpft, alle Macht und allen Einfluss an sich zu binden. Wir sind mehr als sieben Milliarden Menschen auf der Welt. Aber wir sind so aus dem Einklang mit diesen Planeten geraten, dass ein femininer Ansatz fast schon so etwas wie die letzte Chance darstellt, ein neues Bewusstsein für unsere Beziehung zur Welt und füreinander zu erreichen."

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Das Albumcover zeigt Marsha P. Johnson (1945-1992), eine Ikone der LGBTQ-Bewegung und Namensgeberin der Begleitband von Anohni.

Popsongs werden heutzutage im Team erarbeitet, es gibt Spezialisten, die nur für den Refrain zuständig sind, Cracks, die nur den Beat programmieren. Anohni And The Johnsons wenden sich auf ihrem neuen Album, wenn man so will, gegen diese Strategie.

Traumhaftes Teamwork der Band

Man muss diesen Songs und der Sängerin genau zuhören, lauschen, studieren, was die Vokalistin bedauert und betrauert, anklagt und moniert – Verfasstheiten, die nicht unbedingt Beifall finden in unserer Zeit, die aber vielleicht am Anfang stehen einer jeden Denkbewegung, einer jeden besseren Selbstwahrnehmung. Die Band fängt jedenfalls jeden Gedanken, jede Äußerung ihrer Vokalistin auf, bettet sie ein, pusht die Sängerin nach vorn – traumhaftes Teamwork also und großer Genuss, diesem elektroakustischen Modell einer Gemeinschaft zuzuhören.

"My Back Was A Bridge For You To Cross" – schon jetzt ein, wenn nicht DAS Album des Jahres. Schade nur, dass diese fantastische Vokalistin ihre Alben so selten zustande bringt. Die neue Platte ist erst das fünfte Studioalbum der Formation in zwanzig Jahren. "Leider bin ich sehr unorganisiert, und ich habe wenig Disziplin in allem, was ich tue", sagt Anohni. "Das ist eine ausgewiesene Schwäche von mir, und das ist sie schon immer gewesen. Von daher arbeite ich nur dann, wenn mir etwas zufliegt, und ich lasse mich auch sehr schnell ablenken."

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