"Hilma Who? No More", titelt die New York Times im Oktober 2018: Anlass ist die Retrospektive "Paintings for the Future" der schwedischen Künstlerin Hilma af Klint (1862-1944) im New Yorker Guggenheim Museum. 600.000 Menschen stehen Schlange, um das Werk der Frau zu sehen, die 1906, weit vor Wassily Kandinsky, anfing, ganze Serien von teils gigantischen abstrakten Gemälden zu malen. Das Guggenheim Museum verzeichnet einen Besucherrekord und die bis dahin weitgehend unbekannte Malerin wird zum Star der Kunstwelt. Die Kunsthistorikerin Julia Voss hat Hilma af Klint 2018 eine umfassende Biografie gewidmet: "Die Menschheit in Erstaunen versetzen". Darin feiert sie af Klint als die bedeutendste Wiederentdeckung in der modernen Kunstgeschichte. Iris Buchheim hat mit Julia Voss über das Buch gesprochen.
Iris Buchheim: Frau Voss, Sie schreiben, Hilma af Klint habe die Kunstgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts heftig durchgeschüttelt. Ihnen nimmt man das besonders ab: Als Sie das umfassende Archiv der Künstlerin – mit den rund 1.300 Gemälden und 26.000 Seiten Text – zum ersten Mal gesichtet haben, beschlossen Sie, Ihr Leben zu ändern: Sie lernten Schwedisch, kündigten Ihre Stelle in der FAZ und widmeten sich ganz dieser Biografie. Wie kam es dazu?
Julia Voss: Meine Faszination mit Hilma af Klint geht schon ein wenig zurück. Ich habe zum ersten Mal 2008 in Stockholm ein Bild von ihr gesehen: Iris Müller-Westermann, die 2013 dann die große Hilma af Klint-Ausstellung in Stockholm gemacht hat, führte mich durch die Sammlung des Moderna Museet, wo eine Leihgabe dieser Künstlerin hing. Ich habe damals dieses Bild gesehen, und es hat mir sofort wahnsinnig gut gefallen - und mich irritiert, weil ich es gar nicht einordnen konnte. Ich konnte nicht sagen, aus welchem Jahr das ist, wer es gemacht hat oder aus welchem Umkreis es ist. Und dann hat Iris mir so ein bisschen die Geschichte von Hilma af Klint erzählt. Ich war richtig schockiert, weil ich dachte, wie merkwürdig es ist, dass ich Kunstgeschichte studiert, sogar mehrere Abschlüsse in dem Fach gemacht habe und dann am Ende noch nie diesen Namen gehört habe. Wie kann es sein, dass man ein so großes Werk mit 1.300 Gemälden zum Verschwinden bringen kann.
Dann ging Ihre Faszination anfangs vom Werk aus?
Ja, und von der Vergessenheit. Ich hatte auch das Gefühl, da ist etwas Prototypisches dahinter, weil sie natürlich nicht die einzige Frau ist, die vergessen worden ist. Als ich Jahre später im Stockholmer Archiv die Bestände mit dem Großneffen von Hilma af Klint durchgegangen bin, habe ich gleich festgestellt, dass ganz vieles nicht bekannt ist. Zum Beispiel, dass sie in Italien war, das passte nicht zu dem Bild, das man von Hilma af Klint hatte. Nach dem nämlich blieb sie in Schweden isoliert und verortetet sich auch in der Kunstgeschichte nicht selbst. Und das war für mich das erste Schildchen, an dem ich gezogen habe und dann gemerkt habe, da ist eine viel größere Geschichte dahinter.
Sie selbst seien erst einem Phantom aufgesessen, schreiben Sie in Ihrem Buch.
Es gab ein paar Publikationen zum Thema, die eigentlich alle auf die Recherchen von einer Person zurückgehen: dem schwedischen Kunsthistoriker und Anthroposophen Ake Fant. Der hat sozusagen die Grundzüge ihrer Biografie beschrieben und sie als eine sehr isoliert lebende Person dargestellt, die zwar einen Freundeskreis hat, aber mit der Kunstszene in Stockholm nicht in Kontakt steht. Er hat – außer den späten Reisen nach Dornach zu Rudolf Steiner – keine ihrer Reisen erwähnt und als eine Malerin beschrieben, die ihrer Werke zu Lebzeiten nicht zeigen will und nicht gezeigt hat. Meine Forschung aber ergab, dass Hilma af Klint schon 1913 ihre abstrakten Bilder gezeigt hat – und es ist ein großer Unterschied, ob jemand die Sachen für sich behalten oder der Öffentlichkeit zugänglich machen will.
Sie schildern af Klint als eine sehr freie, weltoffene, vergnügte und selbstbewusste Frau – was ihre Kunst, aber auch was den Umgang mit Leuten betrifft?
Es ist überhaupt keine Frage, dass af Klint eine enorm spirituelle Person war. Nur bedeutet diese Spiritualität nicht, dass sie eine fromme, zurückgezogene, esoterische, weltfremde, weltabgewandte Person gewesen ist. Sie hatte eine Freiheit, auch mit Geschlechterdefinitionen umzugehen, mit ihren Freundinnen eine ganz andere Erotik und Sexualität zu leben, eben ein ganz anderes Verhältnis zur Zeit, ein ganz anderes Verhältnis auch zur Zukunft. Also sie reist nach Italien, nach Florenz, nach Rom, später nach Amsterdam und London. Sie reist auch in Schweden viel umher, trifft Leute, macht denen Vorschläge, wie ihre Sachen gezeigt werden könnten. Sie geht ins Kino mit einer Freundin, macht darüber auch Aufzeichnungen. Als sie versucht, ihre Kunst in Vorträgen zu zeigen, erkundigt sie sich ganz genau, was die neuesten Apparate sind, um diese Bilder projizieren zu können. Das heißt, es ist eine enorm pragmatische, versierte und unternehmungslustige und weltoffene Frau, die gleichzeitig eben auch diese spirituelle Seite hat.
Hilma af Klint bezeichnet ihre Malweise selbst als "mediumistisch", spricht ihre Geister und "Auftraggeber" namentlich an und behauptet "die Bilder sind direkt durch mich hindurch gemalt worden, ohne Vorzeichnung, mit großer Kraft". In Ihrer Biografie nehmen Sie diesen esoterischen Zug ein bisschen zurück und zwar interessanterweise, indem Sie ihn weder dämonisieren noch verleugnen, sondern ihn in Maßen zulassen und einfach mitmachen. Sie zeigen, wie Hilma af Klint mit ihren "Auftraggebern" kommunizierte und nehmen das Übernatürliche so, wie es af Klint nach Ihrer Darstellung selbst nahm: als Teil ihrer Erfahrungswelt. Wie haben Sie das geschafft, so darüber zu reden?
Tatsächlich war das anfangs der Teil, mit dem ich am meisten gefremdelt habe, weil ich das irgendwie nicht einordnen konnte. Wenn man von Geistern redet, versteht jeder etwas anderes. Die einen denken an Schlösser und Kettenrasseln, die anderen vielleicht an Shakespeares Rachegeister. Ich glaube, wir haben alle relativ vage Vorstellungen, was solche Geister sein können. Ich habe mich am Anfang total an historische und recherchierbare Sachen gehaltenen, also ihre Reisen, Wohnorte, Kontakte und Briefwechsel. Also alles Sachen, mit denen wir Historiker oder Kunsthistoriker irgendwie gut umgehen können. Und dann habe ich irgendwann gemerkt, ich kann das nicht aussparen, nicht ignorieren und auch nicht umdeuten. Ich kann nicht die – durchaus gängige – Vorstellung bemühen, "weil Frauen das Genie abgesprochen worden ist, basteln sie sich sozusagen ihre eigene, höhere Welt, die sie legitimiert". Und dann war ich irgendwann auch sehr eingenommen von diesen "unsichtbaren Freunden" – wie sie sie an einer Stelle nennt –, die zu ihr sprechen, weil die durchweg positiv sind. Also das sind keine bösen Einflüsterungen, sondern sie erlebt tatsächlich ein Chor von Stimmen, die auch Namen haben und die sie ermutigen, diese wirklich herausragenden Gemälde zu schaffen. Das Buch, das mir dann am Ende am meisten geholfen hat, damit umzugehen, ist "Das Geisterhaus" von Isabel Allende gewesen. Da sind auch diese Frauen, die mit beiden Füßen in der Welt stehen, riesige Haushalte schmeißen und Unternehmungen machen, also ganz weltlich sind, und die auf der anderen Seite diese übernatürlichen Sachen erleben, ohne dass es eine Erzählerstimme gibt, die das beurteilt. Und das war für mich ein Vorbild, zu sagen: Okay, ich schildere einfach diese Künstlerin in ihrer Vielgestaltigkeit, in ihrem ganzen Facettenreichtum. Dazu gehören ganz weltliche, praktische Dinge, und dazu gehört eben aber auch das.
Der Geist, oder die Geister, aus denen Hilma af Klint malt, was sie malt, ist dann doch sehr speziell oder? Das hat doch im Grunde mit dem, was Kandinsky, Mondrian und Malewitsch machen, nichts zu tun, außer dass das eben auch abstrakt ist?
Das würde ich anders sehen. Es ist zwar nicht abschließend zu beantworten, wer der oder die erste abstrakte Maler(in) war – die Britin Georgiana Houghton etwa war noch früher als Hilma af Klint und hat ihre Gemälde auch ausgestellt. Auf der anderen Seite bleibt der Zeitpunkt, wann jemand etwas gemacht hat, wichtig: dass Hilma af Klint 1906 mit der Abstraktion anfing, Pionierin war, und nicht erst 1926 als die Abstraktion schon etabliert war. Die Geschichte der Abstraktion wird eigentlich erst in den 40er- und 50er-Jahren richtig geschrieben, in Stein gemeißelt und kanonisiert. Da spielt der Kalte Krieg eine große Rolle, der Westen als das Gebiet, in dem abstrakt gemalt werden darf, der Osten als das Gebiet, wo es keine künstlerische Freiheit gibt. Das ist so die Erzählung, die darum gesponnen wird. Und in diesem Prozess wird die Abstraktion enorm entleert, was ihre Bedeutung anbetrifft. Auch Kandinsky zum Beispiel hat sich für Geist, für spirituelle Fragen, für Antimaterialismus und so weiter interessiert, im Kalten Krieg aber interessieren sich die Leute nicht mehr dafür. Insofern wird Abstraktion zu einer reinen Oberflächenmalerei, die nur um Komposition und Farbe und Form kreist. Das passt aber weder auf Kandinsky, noch auf Mondrian, Malewitsch oder Hilma af Klint, das ist nur ein nachträgliches Konstrukt. Dadurch, dass Hilma af Klint wieder andere Elemente in die Geschichte der Abstraktion hereinbringt, werden jetzt auch die großen Heroen der Abstraktion wieder anders angesehen. Die Tate plant eine Ausstellung über Mondrian und Hilma af Klint im Vergleich – beide haben sich viel mit der Anthroposophie beschäftigt.
Julia Voss, "Die Menschheit in Erstaunen versetzen" . Die Biografie der Hilma af Klint erscheint am 26. Februar beim S. Fischer Verlag und ist jetzt schon für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch nominiert.
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