Schriftsteller Paolo Giordano
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Schriftsteller Paolo Giordano

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Paolo Giordanos Roman "Tasmanien": Klima- und Beziehungskrisen

Der Italiener Giordano erzählt in seinem Roman vom Zerplatzen von Träumen und Brüchen in unserer heutigen Lebensrealität - sei es auf der privaten, wie auch auf der weltpolitischen Ebene.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Der Umriss Tasmaniens ähnelt einem Beutel, der locker unten rechts an Australien baumelt. Die Insel befindet sich am südöstlichsten Punkt unterhalb des fünften Kontinents, auf dem vierzigsten Breitengrad. Damit liegt Tasmanien innerhalb der Roaring Forties, einer Zone, die für starke Westwinde berüchtigt ist. Sollte sich die Klimakrise drastisch verschärfen, gar die Apokalypse eintreten, würde sich der Physiker Jacopo Novelli nach Tasmanien begeben, wie er in Paolo Giordanos gleichnamigem Roman versichert: "Es ist südlich genug, um nicht unter extremen Temperaturen zu leiden. Es hat reichlich Süßwasserreserven, wird demokratisch regiert, und es leben dort keine Fressfeinde des Menschen. Es ist nicht zu klein, ist aber jedenfalls eine Insel, also leicht zu verteidigen. Denn man wird sich verteidigen müssen, glauben Sie mir."

Die "grausame Langweiligkeit" der Klimakrise

Der Ich-Erzähler von "Tasmanien" ist ein Physiker namens Paolo Giordano aus Turin, der in Rom lebt, wenngleich mit einer gewissen Abneigung gegen die chaotische Hauptstadt. Er arbeitet als freier Journalist für den "Corriere della Sera". Die Mailänder Tageszeitung hat ihn nach Paris entsandt, um über eine Klimakonferenz zu berichten. Doch diese so wichtige Materie ödet Paolo an, was er als durchaus tragisch empfindet: "Umwelt war ein langweiliges Thema. Langsam, ohne Handlung oder Spannungsbogen, abgesehen von den eventuell auftretenden Zwischenfällen. Dafür überfrachtet mit guten Absichten: Das war das verborgene Problem der Klimakatastrophe: die grausame Langeweile. Der Aushandlung eines internationalen Abkommens beizuwohnen, war geradezu einschläfernd."

Paolo logiert bei seinem ehemaligen Kommilitonen Giulio, der sich in einer permanenten Ehekrise befindet, analog zur Klimakrise. Da Paolo nichts Inspirierendes für seinen Artikel einfällt, interviewt er in Paris einen dritten Physiker: Jenen Jacopo Novelli, den es nach Tasmanien zieht. Paolo Giordano veröffentlichte mit 26 Jahren sein Debüt "Die Einsamkeit der Primzahlen", während er in Physik promovierte. Die parallel erzählte Geschichte vom Heranwachsen der mathematisch hochbegabten Einzelgänger Alice und Mattia wurde ein überwältigender Erfolg mit Übersetzungen in vierzig Sprachen. Als bislang jüngster Schriftsteller Italiens erhielt Paolo Giordano 2008 den Premio Strega. Zuletzt erschien vor fünf Jahren der Roman "Divorare il cielo".

Autor wird zum Erzähler

Hätte sich der Romancier Giordano in seinem aktuellen Werk "Tasmanien" bei der Camouflage seiner Figuren nicht etwas mehr Mühe geben können? Die italienische Presse hat das bei Erscheinen des Buches, das als eines der meistgelesenen des Landes gilt, deutlich moniert. In einer Rezension war gar vom "Verrat" des Paolo Giordano die Rede. Denn angesichts der vielfältigen Krisen und Diskontinuitäten der Gegenwart tritt der Autor aus dem Schatten seiner Figuren heraus und wird selbst zum Erzähler, wobei er konkrete Daten nennt: "Aber von Calais kann ich hier und heute, dem 16. März 2022, wagen zu erzählen, weil in der Zwischenzeit unvorstellbare Dinge auf der Welt geschehen sind, wir alle immer mehr Überlebenden ähneln, und es aus der Perspektive von Überlebenden vielleicht möglich ist, alles zu erzählen."

Ungewollte Kinderlosigkeit

Paolo Giordano beleuchtet die zunehmend brüchige Realität, indem er seine eigene Lebenswirklichkeit inklusive einer Japanreise zu den Stätten der Atombombenabwürfe 1945 darstellt - oder dies zumindest vorgibt: Soweit das poetologische Konzept von "Tasmanien", das nicht unbedingt überzeugt. Demzufolge kann Giordano das Privatleben seines Ich-Erzählers nicht aussparen, das von ungewollter Kinderlosigkeit getrübt wird. Paolos Frau Lorenza hat einen fast erwachsenen Sohn aus einer anderen Beziehung. Als sie ohne Rücksprache mit ihrem Mann beschließt, die immer quälendere Kinderwunschbehandlung zu beenden, kündigt sich das Aus an, symbolisiert in einem luxuriösen Designersofa, das Paolo nun deplatziert vorkommt: "ein Sofa, das uns begeistert hatte, als wir es kauften, und das uns jetzt nicht mehr überzeugte: zu bunt, zu bizarr, es repräsentierte uns nicht mehr".

Um sich mit seiner Kinderlosigkeit abzufinden, widmet sich Paolo den - allzu ausführlich referierten - Recherchen zu einem Buch über die US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Japan. Doch damit kommt er ebenso wenig voran: "Ich dachte viel an die Bombe und nicht an die Kinder, die Lorenza und ich nicht haben würden. Ich war klarsichtig genug, um zu bemerken, dass der Tausch für mich von Nachteil war, aber was konnte ich machen?"

Illusionen zerplatzen wie Seifenblasen

Nicht nur das Sofa, auch andere Symbole, die der Repräsentation und Selbstvergewisserung dienten, verlieren in dem dreiteiligen Roman unaufhaltsam an Wert. So beklagt sich Giordanos Physiker-Kollege Jacopo Novelli bitterlich, dass er ein Opfer der sogenannten gender balance geworden sei: Novelli hatte auf einen Ruf als Professor an die Universität seiner Heimatstadt Genua gehofft, doch wurde ihm eine Bewerberin vorgezogen, die weit weniger Veröffentlichungen als er vorweisen konnte. Als er daraufhin bei einem Vortrag gegen die "Geschlechterdiskriminierung in der Wissenschaft zuungunsten der Männer" wütet, bricht im Internet ein Sturm der Entrüstung aus, der jeden konventionellen Rufmord übersteigt. Novelli ist erledigt, und Giordano zu feige, ihn in seiner Zeitungskolumne zu verteidigen. So verrät er den "Wolkenjäger", als der sich Novelli bei ihm vorgestellt hatte. Die Zunahme der leuchtenden Nachtwolken ("noctilucent") hänge mit der Erderwärmung zusammen, erklärt Novelli: Sie bildeten sich nur durch die Konzentration schädlicher Stoffe wie Methan.

Auf diese Weise zerplatzten in "Tasmanien" die Illusionen nach und nach wie Seifenblasen. Barbara Kleiner hat den oft kolloquialen Ton des Romans adäquat ins Deutsche gebracht, auch wenn sie dafür leider so manchen eleganten Genitiv geopfert hat. Aber der Roman handelt ohnehin auf aufrüttelnde Weise von Verlusten. Er erzeugt so etwas Paradoxes wie produktive Ratlosigkeit und ist damit ganz am Puls unserer Zeit.

Paolo Giordano: Tasmanien. Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 335 Seiten, 25 Euro.

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