Alle Welt redet von LGBTIQ*, vielfältigem Begehren, Diversität und queer. Die Vogue feiert trans* und nichtbinäre Schauspielerinnen und Models, seit Januar läuft beim rbb das Lifestylemagazin "Queer Eye 4 You". Aber was bedeutet das Wort "queer" eigentlich genau? Sabine Rohlf hat mit Menschen gesprochen, die es wissen: der Philosophin Antke Engel, die in Berlin ein Institut für Queer Theory leitet, dem Schriftsteller und spoken word-Künstler Jayrȏme C. Robinet und mit Gülden Ediger, die sich für ihre Doktorarbeit unter anderem mit queeren Subkulturen in Berlin Neukölln beschäftigt.
Sabine Rohlf: Das englische Wort "queer" wurde spätestens in den 90er-Jahren zum wichtigen geschlechtertheoretischen und politischen Begriff. Wie wurde es damals verwendet?
Antke Engel: Zunächst ist "queer" eingeführt worden, um die Selbstverständlichkeit heterosexueller Lebensweisen in Frage zu stellen und eine Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, dass Menschen unterschiedliche Formen haben, ihr Begehren zu leben. Es gibt Lesben, es gibt Schwule, es gibt bisexuelle Menschen, und die sind nicht einfach nur das Andere der Heterosexualität.
Also zunächst eine Art Sammelbegriff, verbunden mit einer grundlegenden Gesellschaftskritik. Wie genau sah diese Kritik aus?
Jayrȏme C. Robinet: Es ging darum, diese Dichotomien – Heterosexualität versus Homosexualität und Frau versus Mann – zu brechen, also auch die Zweigeschlechterordnung zu unterwandern. Im Laufe der Zeit hat sich auch eine postkoloniale Kritik dazu addiert und meiner Meinung nach auch eine Kapitalismuskritik.
Antke Engel: In queerer Theorie und Praxis geht es um eine Auflösung solcher Gegenüberstellungen, die ja immer eine Hierarchie etablieren und zwar in festen, klar voneinander abgrenzbaren Kategorien: Eigenes und Fremdes, männlich und weiblich, normal und abweichend. Gleichzeitig wird gefragt, wie sich Begehren anders leben lässt als in einer traditionellen, eben auch hierarchischen, Subjekt-begehrt-Objekt-Logik.
Nicht alle verstehen unter dem Wort "queer" das Gleiche. Welche Unterschiede gibt es denn?
Gülden Ediger: Viele schmücken sich mit dem Begriff queer. Partys sind queer, es gibt viele Sachen, die sich als queer bezeichnen, Orte, Praktiken, die für mich kein kritisches Potential haben. Wenn sich Bars, Clubs oder andere Räume queerfreundlich nennen, sich aber nicht mit ihrer rassistischen Türpolitik auseinandersetzen, dann ist das für mich kein queerer Ort. Denn für mich muss Queerness, genauso wie Feminismus, immer auch eine antirassistische Praxis sein. Für mich bedeutet queer auch die Hinterfragung von Rasse, von Ethnie, beziehungsweise der Konstruktion dieser Kategorien.
Ein "progressiver" queerer Lebensstil wird im öffentlichen Diskurs oft einer vermeintlich queerfeindlichen, "rückschrittlichen" türkisch-arabisch geprägten Kultur gegenübergestellt. Wer je mit offenen Augen durch Berlin Neukölln ging, weiß aber, dass die Wirklichkeit sehr viel komplizierter ist. Wie lassen sich solche Stereotype zurückweisen oder ändern?
Gülden Ediger: Naja, daraus, aus dieser Auseinandersetzung von Homophobie und Rassismus in Kombination, haben sich in Berlin zum Beispiel solche Organisationen wie GLADT gegründet, Gays and Lesbians aus der Türkei oder "LesMigraS", eine interkulturelle Initiative, weil eben dazu gearbeitet werden muss: Wie kann man etwas kritisieren, ohne gleich in einen rassistischen Diskurs zu verfallen? Wie kann man eine gute Beratung herstellen? Wie sorge ich dafür, dass queere Menschen of Colour, queere muslimische Menschen im dominanten Diskurs sichtbarer werden? Und zwar nicht nur als vermeintliche Opfer.
So ein Queerbegriff wendet sich immer gegen unterschiedliche Diskriminierungen gleichzeitig. Wie Sexismus, Queerfeindlichkeit, Rassismus. Das ist sicher für viele Menschen ungewohnt, oder?
Jayrȏme C. Robinet: Der Philosoph Paul B. Preciado, der "Kontrasexuelles Manifest" geschrieben hat, definiert den Begriff als "kritischen Blick auf die Entstehung von Identitäten und Kategorien", also eigentlich nur diese Infragestellung von den Dingen, die wir als selbstverständlich betrachten.
Aber viele Menschen fühlen sich mit Selbstverständlichem wohl. Mit einer klaren Einteilung in Männer und Frauen, Vertrautem und Fremdem. Wie könnte ich ihnen queere Anliegen erklären oder nahebringen?
Antke Engel: Wenn Menschen sagen, ich bin ganz selbstverständlich ein Mann oder eine Frau, ist das der Fall, weil Menschen sich in sozialen Kontexten bewegen, in denen genau das immer bestätigt wird. Also bestätigt wird, dass die Person, die sich da selbstverständlich als eine Frau fühlt, als eine Frau wahrgenommen wird, und entsprechend angesprochen wird, entsprechende Aufgaben und Anforderungen, aber auch entsprechende Komplimente an sie herangetragen werden. Gleichzeitig heißt das aber auch für all diejenigen, die diese Form der Bestätigung nicht bekommen, dass sie immer wieder entweder anecken oder viel Arbeit reinstecken müssen, diese sozialen Situationen in irgendeiner Form trotzdem zu bewältigen, funktionieren zu lassen, sich selber nicht zu sehr verletzen zu lassen, aber auch die anderen nicht zu sehr durcheinander zu bringen.
Dadurch, dass Menschen ganz selbstverständlich als Mann oder Frau leben, schaden sie anderen?
Antke Engel: Es geht darum, das Privileg der Normalität, das Privileg der Selbstverständlichkeit als ein Privileg anzuerkennen. Es geht ja bei einem Privileg gar nicht unbedingt darum, dass jemand profitiert, also profitiert in dem Sinne, dass jemand einen materiellen Vorteil hat, sondern erstmal zu sehen, dass es quasi eine Form der emotionalen Bequemlichkeit darstellt. Die aber heißt, dass es für jemanden anderen unbequem ist.
Gewalt gegen queere Personen reicht von verbalen Angriffen bis zu körperlichen Attacken und, auch in Deutschland, chirurgischen Eingriffen an intergeschlechtlichen Kindern. In "Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund" beschreiben Sie, Jayrôme C. Robinet, die Macht der Geschlechternormen, Transphobie und Gewalt, die Ihnen als trans* Mann begegnen. Welche sind das?
Jayrȏme C. Robinet: Also ich bin sichtbar trans*, beziehungsweise ich glaube, alle Menschen, mit denen ich zu tun habe, wissen das. Und das führt dazu, dass ich nicht wirklich auf der Seite der Männer bin. Das führt auch dazu, dass ich nicht diese berüchtigten männlichen Privilegien habe, aber ich freue mich, dass ich die nicht habe.
Traditionelle Männlichkeit ist also nicht unbedingt eine erstrebenswerte Größe. Die im Buch von Ihnen beschriebene Transition ist eine Auseinandersetzung mit dem Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit, aber auch mit Rassismus und anderen sozialen Hierarchien. Es zeigt sehr genau, wie viel Autorität ein gut sitzender Anzug verleiht, aber auch, welche Vorbehalte spürbar werden, sobald Sie in anderer Kleidung, mit Ihren dunklen Haaren und Augen als junger Türke oder Araber wahrgenommen werden. Das zeigt sehr deutlich, wie Sexismus und Rassismus sich in der Wahrnehmung überkreuzen, oder?
Jayrȏme C. Robinet: Es gibt eben nicht "den Mann". Unterschiedliche Identitätskategorien führen zu anderen Positionierungen in der Gesellschaft oder dazu, dass man anders behandelt wird. Ich würde behaupten, dass Schwarze Männer nicht wie weiße Männer behandelt werden und es ist wichtig, dass nicht zu vergessen. Und umso wichtiger, Männlichkeit im Plural zu verwenden.
Fassen wir zusammen: Queer bedeutet also wahrzunehmen, dass die Gruppen der "Männer" oder "Frauen" nicht homogen, sondern von rassistischen und anderen sozialen Hierarchien geprägt sind. Zweitens bedeutet es, die Grenzen zwischen ihnen infrage zu stellen. Beziehungsweise anzuerkennen, dass Geschlecht und Begehren noch ganz anders gelebt werden können als heterosexuell, männlich oder weiblich. Drittens muss ich überlegen, was das alles mit gesellschaftlichen Machtstrukturen zu tun hat und wie ich unter Umständen von ihnen profitiere. Das ist viel auf einmal …
Gülden Ediger: Ja, das ist alles komplex, das ist widersprüchlich und es ist nicht einfach. Das auszuhalten ist für so viele Leute so viel schwieriger als klare Feindbilder, die man schön greifen kann und die schön definiert sind.
Queer wäre damit keine neue Ideologie, sondern eine ethische Haltung, die sich immer wieder gegen geschlechtliche und andere Ausschlüsse, Festschreibungen, Hierarchien stellt, ohne dabei neue zu installieren, ohne selbst eine feststehende Identität oder Kategorie zu etablieren. In Zeiten sich verhärtender gesellschaftlicher Fronten lässt sich davon sicher viel lernen. Können Sendungen wie "Queer Eye", "Drag Queens" bei Heidi Klum und nichtbinäre Popstars dazu beitragen? Liefern sie Vorbilder und Ermutigung oder sind sie eine Vereinnahmung von Subkulturen und schaden eher?
Jayrȏme C. Robinet: Da verlaufen für mich zwei Dinge parallel: Die kommerzielle Vereinnahmung, die aber nicht bedeutet, dass nicht auch ein gesellschaftlicher Wandel gezeigt wird. Das heißt, für mich ist es nicht entweder die Vereinnahmung von queeren Thematiken in Bezug auf Kapitalismus oder Leistung oder Werbung auf der einen Seite oder Zeichen einer aufgeklärten Gesellschaft auf der anderen, es kann auch sowohl als auch sein. Und ich glaube, es zeigt schon einen gesellschaftlichen Wandel, der im Gange ist. Oder dass viele Menschen sich das wünschen.
Die Sendung "Alles queer, alles gut? – Warum Gender-Vielfalt einer Gesellschaft nützt" von Sabine Rohlf läuft am Dienstag, 21. Januar, um 20:05 Uhr im Nachtstudio auf Bayern 2.
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