Pro: Die Hochschule kann über die Gestaltung ihrer Fassade frei entscheiden
Ein Gedicht auf einer Hauswand wird übermalt. Es wird nicht verboten. Nicht aus Büchern entfernt. Nicht aus Lehrplänen gestrichen. Trotzdem rufen nun alle: Zensur. Dabei geht es lediglich um eine Hochschule, die selbst bestimmen möchte, was an ihrer Fassade stehen soll. Als Blickfang. Als Aushängeschild. Und es geht um Studenten. Studenten, denen aufgefallen ist, dass das Gedicht, dass da seit sechs Jahren in so dicken, großen Buchstaben an ihrer Uni steht, eine klassische patriarchale Kunsttradition reproduziert: Dort die Mujeres, die Frauen, die angeschaut werden. Hier der Admirador, der Mann, der schaut und bewundert – und künstlerisch tätig wird. Ein Befund, den man nur schlecht von der Hand weisen kann.
Die Studenten meinen außerdem, dass das Gedicht an sexuelle Belästigung erinnere. Das muss man nicht so sehen. Aber man sollte respektieren, wenn sie sich mit dem Gedicht nicht identifizieren können. Mit einem Gedicht, dass zu seiner Entstehungszeit 1951 zwar formal fortschrittlich war, inhaltlich aber ganz dem Zeitgeist verhaftet blieb. Und dass sich deshalb tatsächlich nicht besonders gut eignet als Aushängeschild einer Uni, die in ihrem Leitbild vorgibt, sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen kritisch auseinanderzusetzen. Zu einer solchen kritischen Auseinandersetzung zählen auch immer wieder neue Debatten um das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft. Diese Debatten sollten nicht mit Zensur-Rufen erstickt, sondern ernst genommen werden. Auch, wenn sie von Studenten angestoßen werden. Sie sollten durchaus leidenschaftlich, aber nicht hysterisch geführt werden. Und ab und an sollten sie bitte auch dazu führen, dass ein Gedicht übermalt wird. Denn wozu debattieren, wenn sich nichts verändern darf? (Hardy Funk)
Contra: Sieg des Kulturpuritanismus
Gute Güte, Goethe! Geht ja gar nicht, was der da in seinen "Wahlverwandtschaften" über Ottilie schreibt: "... sie saß versenkt in ihr Buch, in sich selbst, so liebenswürdig anzusehen, daß die Bäume, die Sträuche rings umher hätten belebt, mit Augen begabt sein sollen, um sie zu bewundern und sich an ihr zu erfreuen". Die Vokabeln "bewundern" und "liebenswürdig", gemünzt - horribile dictu - auf eine Frau, gelten heute schon als verdächtig, zumindest an der Berliner Alice-Salomon-Hochschule. Dort genügt ein kurzes Gedicht über Alleen, Blumen, Frauen und einen Bewunderer, um eine so noch nicht da gewesene Form poetischer Korrektheit walten zu lassen.
Eugen Gomringer, gerade 93 Jahre alt geworden, muss sich von einem so kunst- wie lebensfernen Akademischen Senat sagen lassen, er reproduziere eine "klassische patriachale Kunsttradition" mit dieser Form konkreter Poesie. Sexismus, werft ihr mir vor? Wenn Bewunderung jetzt schon ein Synonym für Belästigung ist, dann hat der Kulturpuritanismus auf ganzer Linie gesiegt. Es ist mehr als eine Fassadenreinigung von vermeintlich schmutzigen Versen, die da gestern beschlossen worden ist. Es ist ein Akt der furiengleichen lyrischen Sittenpolizei, die jedes Augenmaß verloren hat. Merke: Man ist 2018 schon ein "poète maudit", wenn man Damen admiriert. Höchste Zeit, dass der "Allgemeine Studierendenausschuss", kurz AStA, dem wir das alles zu verdanken haben, sich umbenennt. Denn, bitte, der altnordische Vorname Asta bedeutet "die göttlich Schöne". Patriarchal-sexistischer geht’s ja nun wirklich nicht. (Knut Cordsen)