"In Russland ist es an der Zeit, einen Pugatschowa-Index einzuführen", schrieb ein Blogger ironisch: "Damit lässt sich dann fast alles messen – von der öffentlichen Stimmungslage und dem Angstniveau bis hin zum Zustand des Rechtssystems." Zwar stehe die 74-jährige Sängerin seit "hundert Jahren nicht mehr auf der Bühne", aber alles, was sie mache, stehe sofort an der Spitze der russischen Nachrichten. Die Rock-Lady, die Russland 1997 beim Eurovision Song Contest vertrat ("Primadonna") und die mit ABBA, Udo Lindenberg und Joe Dassin auftrat, ist mit dem regimekritischen Exilanten Maxim Galkin verheiratet und gilt selbst als Kreml-Kritikerin. Sie lebte in Israel, Lettland und auf Zypern. Bei ihrem letzten Kurzaufenthalt in Russland machte sie Schlagzeilen, weil ihr Kremlsprecher Peskow die Hand küsste, was die Wut der Nationalisten provozierte.
"Eine absolut absurde Reaktion auf Pugatschowas Rückkehr. Alle vergaßen plötzlich den im ganzen Land verbreiteten Antisemitismus, die zusammengebrochene Wirtschaft, die 'Spezialoperation', denn nichts könnte wichtiger sein als die Ankunft der Frau eines 'ausländischen Agenten' in Russland", spottete ein Blogger. "Pugatschowa ist gekommen, weil die Grenzen offen sind und sie das Recht hat, hier zu sein. Natürlich sind die Russen solche Freiheiten nicht mehr gewohnt: Normalerweise verlassen sie das Land, um der Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte zu entgehen und niemand ist jemals zurückgekehrt."
Kirche: "Sie muss sich entschuldigen"
Russische Medien berichteten, dass Pugatschowa über die Grenze bei Pskow abermals nach Russland einreiste - diesmal offenbar nicht im eigenen Salonwagen, sondern in einem "VIP-Abteil" - und ihre schlossartige Villa bei Moskau ansteuerte. Sie soll mit ihrem Rolls Royce auch vor einem berühmten Aufnahmestudio in Twer Halt gemacht haben, so dass sofort Gerüchte im Umlauf waren, sie habe dort einen neuen Song produziert. Offizielle Kommentare dazu gab es nicht, das Studio ist derzeit eigentlich geschlossen. Aus Pugatschowas Umfeld hieß es: "Ihre Lieder werden von Liebe, Warten, Abschiedstraurigkeit und Nostalgie handeln."
Ob sich die Diva für ihre regimekritischen Bemerkungen "entschuldigen" wird, wie in kremlnahen Kreisen gehofft wird, sei dahingestellt. Angeblich will sie dadurch an die Vermögenswerte ihres Mannes kommen, der als "ausländischer Agent" in Russland nicht mehr erwünscht ist. Nach anderen Quellen will Pugatschowa in Russland lediglich Familienpapiere abholen, womöglich auch ihren Mann in einem politischen Prozess vertreten. Bemerkenswert jedenfalls, dass die Künstlerin die Medien elektrisiert, obwohl sie in Russland aktuell kein öffentliches Wort gesagt hat.
Kremlsprecher Peskow verwies darauf, dass es wenig Sinn mache, die Rock-Lady mit Blick auf ihren Ehemann als "Verwandte eines ausländischen Agenten" zu bezeichnen, so einen Rechtsbegriff gebe es nicht. Russen könnten ihr Land jederzeit verlassen und wieder einreisen. Die dem Kreml engstens verbundene russisch-orthodoxe Kirche teilte anlässlich von Pugatschowas Rückkehr mit: "Russland war und bleibt offen für diejenigen Landsleute, die im Rahmen der Spezialoperation aus unterschiedlichen Gründen das Land verlassen haben. Aber diejenigen von ihnen, die ihre Abreise mit Beleidigungen ihres Volkes begleitet haben oder kontroverse Äußerungen gemacht haben, müssen sich entschuldigen. Dies gilt auch für Alla Borissowna."
"Behörden werden sie ertragen"
Im russischsprachigen Netz gibt es kaum noch ein anderes Thema, das so viele Schlagzeilen macht wie Pugatschowas Leben und Treiben: "Sobald die Diva nach Russland zurückkehrte, wurde allen klar, dass sie keine Angst hat. Aber sie haben Angst vor ihr", heißt es in einem Kommentar: "Denn Pugatschowa ist wie eine Million Menschen vor den Mauern des Kremls. Und diese Million gehört genau der Altersgruppe an, die Putins Kern-Wählerschaft ausmacht. Die Behörden werden darauf achten, sie nicht zu irritieren, indem sie beispielsweise Pugatschowa, insbesondere vor der Präsidentschaftswahl, keinesfalls zur ausländischen Agentin erklären. Und sie werden es ertragen und erneut ihre Hände küssen."
"Wie kann Russland mit Doppelmoral gewinnen?"
Gemessen an Pugatschowa sei Lenin eine "untergeordnete politische Figur". Die Rock-Sängerin befinde sich auf dem Höhepunkt ihrer Autorität und sei sich vollkommen darüber im Klaren, dass sie in Russland keine angemessene Nachfolgerin haben werde. "Der Oligarch Michail Fridman ist zurück, jetzt Pugatschowa. Sowohl ihre Schlösser, als auch ihr Vermögen blieben unangetastet. Und ganz normale Leute riskieren jeden Tag ihr Leben an der Front. Wie kann Russland mit solch einer Doppelmoral gewinnen?" fragt sich unwirsch Blogger Sergej Udalsow.
Putin-Bewunderer unter den russischen Lesern fürchten das Schlimmste: "Was für eine Abscheulichkeit. Verdammt, sie wird hier offenbar gebraucht. Wieder werden einige zu ihren 'Konzerten' stapfen, und wieder, Gott bewahre, werden diese Gesichter an Silvester im Fernsehen zu sehen sein." Regimegegner reagierten dagegen mit Spott: "Im Gegensatz zu unserem Präsidenten kann sie jedes Land besuchen." Möglicherweise sei Pugatschowa zu einer "prächtigen Beerdigung" angereist, da komme sie gerade rechtzeitig nach Russland. Ein weiterer Leser bemerkte: "Als ich die Kommentare las, erinnerte ich mich an einen alten sowjetischen Witz: 'Wer war noch mal Leonid Iljitsch Breschnew? Ist das die zweitklassige politische Persönlichkeit aus der Ära Alla Pugatschowas?' Politische Epochen, Generalsekretäre, Präsidenten, die Namen des Landes, in dem sie lebt, änderten sich, die Haltung der Behörden ihr gegenüber änderte sich, und sie blieb: Alla Pugatschowa!"
"Stiller Antikriegsprotest der Primadonna"
Blogger Ilja Anajew sieht es pragmatisch: "Der Kreml braucht Pugatschowa in Russland, und zwar möglichst noch vor März. Mit oder ohne Galkin an ihrer Seite, das spielt keine Rolle. Das Land ist ihr treu ergeben, und sie ist wie Teflon, trotz der unüblichen Antikriegsrhetorik ihres Mannes. Es muss zugegeben werden, dass der stille Antikriegsprotest der Primadonna bei dem Publikum jenseits der fünfzig, das Putins Mehrheit ausmacht, Gefühle ausgelöst hat. Alla Borissowna stieß Gedanken im Land an." Ihre Rückkehr sei politisch so brisant wie die Zukunft der Wagner-Söldner. Ob ihr der Kreml abermals die Hände küsse oder in die Knie gehe, sei Sache der dortigen Entscheider. Ein weiterer Auslandsaufenthalt von Pugatschowa koste Putin jedenfalls erheblich Reputation.
"Wann wird das 'Dach' der Dame undicht?"
Der Ultrapatriot Jaroslaw Beloussow schrieb dagegen wutentbrannt: "Hat diese Dame den Krieg und die Annexion neuer Regionen öffentlich als 'illusorische Ziele' bezeichnet, die unser Land zu einem Ausgestoßenen machen und das Leben unserer Bürger erschweren? Genauso war es. Handelt es sich hier zumindest um eine Ordnungswidrigkeit (oder gar um eine Straftat)? Genau. Hat Pugatschowa ihre Kritiker unter den Einwohnern Russlands 'Sklaven' genannt? Eben. Worauf warten wir also? Wann wird das 'Dach' dieser Dame undicht werden?"
"Sinnbild für Beziehungen zum Westen"
Der Kriegsblogger Roman Aljechin forderte ein Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft für alle Russen, um mit Rückkehrern wie Pugatschowa weniger Ärger zu haben: "Das ist normale Praxis von Ländern, die für sich Souveränität beanspruchen." Ein weiterer Beobachter ist der Meinung, dass der Kreml sich nicht weiter um Pugatschowas Wertschätzung bemühen sollte. Allenfalls die "Friedenspartei" dort sei daran interessiert, dazu wird auch Putins Sprecher Dmitri Peskow gerechnet: "Die Loyalität der Russen gegenüber der Primadonna darf nicht überbewertet werden. Diese Loyalität ist äußerst gering. Es ist nur so, dass einige Kreml-Vertreter glauben, dass es immer noch möglich ist, die Diva umzudrehen. Und Pugatschowa ist aus ihrer Sicht Sinnbild für die Bereitschaft, die Beziehungen zum Westen wiederherzustellen."
Von der politischen Rechten in Russland wird spekuliert, Pugatschowa könne mit ihrer Prominenz einen liberalen Antikriegs-Kandidaten unterstützen, falls denn eine solche Persönlichkeit tatsäch aufgestellt werde. Sie und die "Friedenspartei" könnten ein "paar Dutzend, wenn nicht hunderte Millionen Dollar" für den Wahlkampf locker machen: "Auf jeden Fall ist ihre Erklärung, sie sei wegen des Testaments und der Dokumente gekommen eine lächerliche Ausrede: Es gibt keine solchen Papiere, die ihr ein vertrauenswürdiger Anwalt nicht überstellen könnte."
Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!