Bei Claude Debussy kämpfen die einen mit der Müdigkeit, die anderen mit den Tränen. Kaum ein Komponist polarisiert so wie er - seine Musik halten viele für eintönig und langatmig, sie gilt aber auch als tiefsinnig und anspielungsreich. So oder so zerrt sie an den Nerven der Zuhörer, und zwar im wörtlichen Sinne, denn für die Nerven interessierte sich Debussy ganz besonders, und zwar von der untersten bis zur obersten Stufe: Von den Reflexen und Instinkten über das verdrängte Triebleben, die Leidenschaften bis hin zum kühlen Verstand.
Düstere Triebe, emotionale Gefahr
Die Oper "Pelléas et Mélisande" wird gern als "symbolistisch" bezeichnet, lotet also das Unterbewusste aus und Debussy findet dafür gar nicht so rätselhafte Bilder: Der Wald steht für düstere Triebe und emotionale Gefahr, das Wasser für Wandel und Leidenschaft, das Schloss mit seinen vielen Zimmern und Sälen für Macht, Ansehen und Ordnung, aber auch für Verlust- und Versagensängste. Interessant für alle Freunde der Psychoanalyse, dieses Eifersuchtsdrama zwischen den beiden Brüdern Golaud und Pelléas, die beide der elfenhaften Waldfee Mélisande verfallen - maskulin und dominant der eine, sensibel und furchtsam der andere.
Es ging auf Mitternacht zu
Aber passt das feinsinnige, intime Werk ausgerechnet in die Bochumer Jahrhunderthalle, in dieses imposante, riesige Industriedenkmal? Eher nicht: Jedenfalls reagierte das Publikum gestern Abend zum Auftakt der diesjährigen Ruhrtriennale nach runden vier Stunden sehr zurückhaltend, was aber auch daran liegen mochte, dass es bereits auf Mitternacht zuging. Der derzeit viel gefragte polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski und seine Ausstatterin Małgorzata Szczęśniak überfrachteten "Pelléas et Melisande" mit ärgerlicher Bedeutungshuberei, wollten quasi symbolistischer sein als das Werk.
Sex auf dem Waschbecken
So zeigte Warlikowski Ausschnitte aus Alfred Hitchcocks Horrorfilm "Die Vögel" und wie Schafe zur Schlachtbank geführt werden. Ziemlich holzschnittartig auch das Bühnenbild: Rechts eine üppige Wandvertäfelung als Sinnbild von Macht und Ordnung, links eine Bar und eine Wandbatterie von Waschbecken, auf denen gleich zu Beginn kopuliert wurde, damit auch jeder Zuschauer begriff: Das ist das Reich der Instinkte. Dazwischen eine leere Arena mit Parkettfläche, im Hintergrund die Bochumer Symphoniker, eingerahmt von einer Showtreppe im Art-Déco-Stil, wie ein Filmorchester der dreißiger Jahre.
Blutverschmierte Metzger
Die Sänger und die Statisten hatten alle Hände voll zu tun, möglichst jede Geste tief- und doppelsinnig erscheinen zu lassen, was auf die Dauer erschöpfte: Kein Glas, keine Zigarette, kein Tisch und keine Tür ohne Ausrufezeichen, als ob das Produktionsteam unsicher war, ob Debussys Symbolismus auch wirklich verstanden wird. Weniger wäre hier mehr gewesen, und die Ankündigung im Programmheft, eine Oper über Angstzustände zu zeigen, wurde in keiner Weise eingelöst. Dazu reicht es jedenfalls nicht, blutverschmierte Metzger auftreten zu lassen. Mit der Architektur der Jahrhunderthalle wusste Warlikowski wenig anzufangen, die Zuschauer saßen auf einer frontalen Tribüne, wie sie bei jeder Freilichtaufführung üblich ist, nicht, wie früher hier üblich, um die Spielfläche herum oder gar auf beweglichen Podien.
Nähe zu Wagners "Parsifal"
Dirigent Sylvain Cambreling ist ein ausgewiesener Debussy-Kenner und machte dessen Nähe zum späten Wagner, vor allem zum meditativen "Parsifal" deutlich - etwas mehr nervöse Energie, mehr dynamische Unruhe wären jedoch wünschenswert gewesen. Unter den Solisten überzeugte Barbara Hannigan als Mélisande in jeder Hinsicht, Phillip Addis als Pelléas war dagegen stimmlich wie darstellerisch sehr unscheinbar. Leigh Melrose als vor Eifersucht rasender Golaud spielte großartig, sang allerdings nur durchschnittlich. Insgesamt ein irritierender Abend in der Bochumer Jahrhunderthalle, in der früher schwer malocht wurde. Und zwar nicht nur symbolisch.
Wieder am 24. und 26. August.