Da sitzt eine Asiatin im Ringelpullover mit schwarzem, schulterlangen Haar und antwortet auf Fragen der Journalisten. „Eine Bekannte sagte mir, die Bedingungen sind gut, sie zahlen gut,“ rechtfertigt sie sich. Die Frau ist eine von zwölf kasachischen Arbeitssklaveninnen, die von Bürgerrechtsaktivisten aus einem Moskauer Lebensmittelladen befreit werden konnten. Viktoria Lomasko zeichnet sie sitzend, verletzlich, der Ringelpullover hat einen tief eingesetzten Arm, der die Schultern verschwinden lässt. Ihr gegenüber hat sich eine Gruppe von Journalisten teilnahmslos aufgebaut. Verschränkte Arme, gelangweilte Gesichter, gezückte Kamera, skeptische Blicke.
Pünktlich zur Präsidentschaftswahl am 18. März
Viktoria Lomaskos Buch“ Die Unsichtbaren und die Zornigen“ erscheint pünktlich zu den Präsidentschaftswahlen in Russland im Schweizer diaphanes Verlag . Die Moskauer Künstlerin fühlt sich darin in all das Unglück der von ihr Porträtierten ein und beleuchtet die Hintergründe.
"Die Regierung hat gezielt viel unternommen, die Menschen so zu vereinzeln, dass sie praktisch nichts voneinander wissen. Alle Schichten der Gesellschaft sind stark isoliert. Die Arbeitssklavinnen hatten gebrochene Finger, sie hatten blaue Flecken und Verwundungen, sie wurden vergewaltigt und ein Kind, das in der Sklaverei geboren worden war, ist stark behindert. Keiner nahm davon Notiz. Es hat auch nie einen Gerichtsprozess gegeben. Das Geschäft gibt es meines Wissens bis heute mit denselben Betreibern." Viktoria Lomasko
Die Unsichtbaren bekommen Stimme und Gesicht
Im Comic wachsen den Schwachen bekanntlich Flügel, in Viktoria Lomaskos graphic reportages bekommen die Unsichtbaren eine Stimme und ein Gesicht. Sie erzählt von einer alten, obdachlosen Frau, die der Sohn vor die Tür gesetzt hat, damit er ungestört trinken kann. Oder von Kindern und Jugendlichen in der Haftanstalt, in der sie einige Zeit als Kunsttherapeutin tätig war. Sie war zu Besuch in einer Dorfschule, in der die Lehrerin die Schüler fragt, ob „Moskau“ denn nun ein Name oder eine Bezeichnung sei. Einer der drei Schüler meldet sich und meint, dass Moskau eine Straße sei. Eine Momentaufnahme, die alles sagt über die russische Provinz. Viktoria Lomaskos Zeichnungen fokussieren dazu Details wie durch ein Makroobjekt. Etwa wenn hinter dem Bücherschrank der Schulklasse eine Küche eingerichtet ist, die das Dorfleben in aller schäbigen Ärmlichkeit wie in einem Brennspiegel konzentriert.
"Das Buch besteht aus zwei Teilen, aus den Unsichtbaren und den Zornigen. Der zweite Teil erzählt von den Meetings und all den Gerichtsprozessen gegen Künstler. Ich arbeite aber anders als ein Journalist, denn ich wähle die Leute, die ich interviewe, nach persönlichen Kriterien aus, etwa bei meiner Chronik des Widerstands. Mein wichtigster Eindruck nach all den Treffen und Gesprächen ist, dass die Menschen in Russland eigentlich nicht verstehen, was es heißt, Teil einer Gesellschaft zu sein. Die Mehrheit der Menschen sieht überhaupt keinen Zusammenhang zwischen ihrem Leben und dem Land." Viktoria Lomasko
Ein Marvel-Comic für Russen
Für diesen Zusammenhang sorgt dieses Buch voller russischer Geschichten abseits der Tagesberichterstattung und farbig illustrierter Zeichnungen. Mit schnellem, präzisem Strich porträtiert die Künstlerin ihr Land – schonungslos, aber voller Witz und Empathie. Für Russen sind „Die Unsichtbaren und die Zornigen“ ein Marvel-Comic, denn die von Viktoria Lomasko beleuchteten Welten werden in den hurra-patriotischen Medien tunlichst verschwiegen.