Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Entscheidend ist, wie wir mit der Erinnerung an die vergangene Zeit umgehen. Da ist zum Beispiel Tony Webster, der pensionierte Besitzer eines Ladens für gebrauchte Leica-Kameras. Die Vergangenheit ist für ihn eine Geschichte, die er sich im Laufe der Jahre so zurechtgelegt hat, wie es ihm gefällt. Gewissermaßen als reale Fiktion, als eine geschönte Biografie, die ihn in der Gegenwart ruhig schlafen lässt. In einem Bollwerk gegen das Präteritum. Gegen den verdrängten Selbstmord eines Freundes. Gegen eine unglückliche Liebe. Tony bevorzugt eine selbstgenügsame Existenz: Jeden Morgen pflegt er dieselben Rituale, die sein Leben, das man glücklich nennen kann, sanft rhythmisieren. Klassik zum Frühstück, ein Espresso, Zeitung am Küchentisch. Danach verlässt er das Haus, betritt kurz darauf sein Kamera-Geschäft, das Reich eines zufriedenen Eigenbrötlers.
Film über die Tücken der Erinnerung
Dann wird Tony auf unvorhergesehene Weise mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Er erbt das Tagebuch seines ehemaligen Studienfreundes Adrian. Irritierenderweise erbt er es von der Mutter seiner ehemaligen Freundin Veronica, die er schon seit sehr langer Zeit nicht mehr gesehen hat. Adrian und Veronica waren mal ein Paar, und Tony war in die junge Frau auch mal verliebt. Nun kam deren verstorbene Mutter offenbar zu der Ansicht, Tony könne mit diesem Tagebuch des Freundes etwas anfangen …
Gediegene Kino-Adaption
Der indische Regisseur Ritesh Batra hat diese Geschichte für die BBC als gediegene Literaturverfilmung inszeniert. Man würde sich das in manchen Momenten frecher, flotter und weniger träge wünschen. Die gefühlige Filmmusik, die vor allem anfangs einigen Szenen unterlegt ist, bringt diese Behäbigkeit gewissermaßen auch noch zum Klingen. Andererseits gibt es großartige Szenen, die vor allem schauspielerisch überzeugen, was an der guten Besetzung liegt mit Emily Mortimer, Charlotte Rampling und als Protagonist Jim Broadbent.
Ein mysteriöses Tagebuch als Dreh- und Angelpunkt
Durch das geerbte Tagebuch entwickeln sich Tonys Erinnerungen an die Vergangenheit zu einem psychischen Mahlstrom, in dem er zunehmend hilflos schwimmt: Warum hat Adrian schon vor längerer Zeit Selbstmord begangen? Welche Rolle spielte dessen Freundin Veronica im Leben der beiden jungen Männer? Wie trügerisch sind seine Gedanken an diese Zeit?
Ritesh Batra inszeniert das als ein Puzzle aus Gegenwart und Vergangenheit. Wie auch schon in dem großen Roman von Julian Barnes, der als Vorlage diente, bleibt einem nichts anderes übrig, sich diesen faszinierenden Kosmos aus Fakten und Vermutungen mit eigenen Gedanken zu erschließen. Was sich wirklich zugetragen hat, erfahren wir weder hier noch dort.
Der Roman besitzt von Beginn an eine soghafte Intensität, der Film gewinnt sie erst mit zunehmender Dauer. Tony erzählt seiner Ex-Frau von dem geerbten Tagebuch – und er nimmt nach Jahrzehnten wieder Kontakt auf mit seiner Jugendliebe Veronica. Am Ende dieser zwei Kinostunden ist klar: Es gibt viele Facetten von Erinnerung. Entscheidend ist, welchen man sich stellen will.