Das Hilton Tel Aviv ist ein monumentaler 60er-Jahre-Bau: Beton im Stile des Brutalismus, ein an den Strand gewuchteter Widerspruch zwischen Natur und Zivilisation. Dorthin schickt Nicole Krauss die Hauptfiguren ihres neuen Romans. Wie die Autorin sind beide New Yorker. Der eine, Jules Epstein, ist ein reicher, alternder Anwalt, der sein Leben hinter sich lassen will, die andere, Nicole, eine Schriftstellerin mit Beziehungskrise und Schreibblockade.
Zwei Parallelgeschichten, zwei Begleiter
Epstein und Nicole begegnen sich nicht, jeder von ihnen bekommt eine Begleitfigur:Epstein gerät an einen Rabbi, der ihn für einen Nachkommen König Davids hält, im Negev lässt er zum Gedenken an seine Eltern einen Wald pflanzen, hat einen Kurzauftritt als König David in einer Filmproduktion und verschwindet schließlich in der Wüste.
Nicoles Begleiter ist ein alter Literaturwissenschaftler, der ihr eine aberwitzige Theorie zu Franz Kafka auftischt: Der sei keineswegs 1924 an Tuberkulose gestorben, sondern nach Palästina ausgewandert und habe dort noch 20 Jahre inkognito als Gärtner gelebt. Ein Koffer mit Kafka-Papieren spielt eine Rolle, auch Nicole findet sich irgendwann in der Wüste wieder - und erlebt dort einen fast magischen Moment: eine Fülle, "die man manchmal unter der Oberfläche von allem und jedem spürt, unsichtbar, wie Kafka einmal schrieb, sehr weit weg, aber dort bereitliegend, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub, und wenn man sie beim richtigen Namen rufe, dann komme sie."
Vom Pathos einer Romankonstruktion
Zwar gehören solche hoch pathetischen Passagen zur Figurenperspektive, doch diese ist bei Nicole Krauss eigentümlich durchscheinend. Und dahinter kommt die leicht klappernde Mechanik einer Romankonstruktion zum Vorschein, die ihrerseits genau diesem Pathos zuarbeitet: Der Text selbst lebt von einer allzu schlichten Ortsmagie, für die er seine Sinn- und Selbstsucher auf verschiedenen Umwegen am Ende in biblisches Gelände schickt.
Zwar wird auch das heutige Israel mit Raketenbeschuss, Checkpoints und orientalisch lautem Leben geschildert, jedoch eher als Kulisse und Durchgangsstation. "Waldes Dunkel" erzählt keine simplen Erlösungsgeschichten, doch es gibt durchaus eine bedeutungsschwere Weise, Erlösung zu verweigern. Und die praktiziert Nicole Krauss in ihrem neuen Roman. Wald und Wüste sollen darin als große Chiffren für das Spirituelle, Geheimnisvolle, Existenzielle dienen. Und dagegen ist das Hilton Tel Aviv dann doch kein Ort produktiver Widersprüche mehr, sondern nur das unansehnliche Mahnmal einer überrationalen Moderne.
"Waldes Dunkel" von Nicole Krauss ist in der Übersetzung von Grete Osterwald bei Rowohlt erschienen.