Schriftsteller Wilhelm Genazino lächelt in die Kamera
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Porträtist der kleinen Dinge: Zum Tod von Wilhelm Genazino

Porträtist der kleinen Dinge: Zum Tod von Wilhelm Genazino

Wilhelm Genazino, der heitere Melancholiker der deutschen Nachkriegsliteratur, hat über Alltagshelden und Lebensvermeider geschrieben - subversiv und sanft. Für die Agenten der Kulturindustrie hatte der Büchner-Preisträger eine spezielle Botschaft.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

"Der gedehnte Blick" war Wilhelm Genazinos Credo. "Der gedehnte Blick" als Gegenpol zur flüchtigen Bilderflut unserer Zeit. Ausgangspunkt fürs Auge, das erst mit dem genauen Hinsehen ein Bild verwandeln, neu entdecken, neu auslegen kann. "Der gedehnte Blick", das stehende Bild als Merkmal des Flaneurs und Streuners, seit er in der Kindheit als "Tarzan" durch die kriegsversehrte Stadt zog. Wilhelm Genazino war dieser Flaneur, ein minutiöser Beobachter, ein Apologet der Langsamkeit, ein meisterhafter Porträtist der kleinen Dinge, ein Ethnograph des Alltags bei seinen scheinbar absichtslosen Erkundungen, Langeweile als "Lockduft" inklusive.

Die Täuschungen und die Tragikomik des Alltags

Genauso interessierte den Schriftsteller aber auch das Gegenteil: "Wenn die Stadt enorm auf den Putz haut sozusagen und mit irgendwelchen merkwürdigen Ereignissen prunkt", so Genazino. "Und die Leute kommen an und erwarten etwas Tolles, und dann fallen sie nur auf irgendeine läppische Show rein, die sie angucken, und dann rennen sie doch wieder in die Kaufhäuser. Dass sie auch getäuscht werden in der Stadt, dass die Stadt überhaupt ununterbrochen eine Großproduktion von Täuschungen ist, interessiert mich auch sehr. Und dass die Menschen nicht genug kriegen können von diesen Täuschungen, das heißt, dass die Täuschungen auch interessant sind."

Genazino wurde 1943 in der Arbeiterstadt Mannheim in eine kleinbürgerliche Familie geboren. Der sparsame Vater, die ratlose Mutter, die "merkwürdigen" Eltern geisterten immer wieder durch seine Bücher. Kleinbürger, Mittelständler, Angestellte, Freiberufler sind seine Figuren. "Individualisten wider Willen", Außenseiter, die das Leben allesamt von außen betrachten. Männer wie Abschaffel, sein bekanntester Held, der Angestellte einer Speditionsfirma, ansonsten ein Mann ohne Eigenschaften, ohne Vornamen, ohne Besitz, ohne Antrieb, eher ängstlich, eher ziellos, das Leben vermeidend, in absurd tragikomischer Lage. Typisch für Genazinos männliches Personal mit all den Wiedererkennungseffekten und reichlich Identifikationspotenzial für uns Leser.

Subversive, tänzelnd leichte literarische Kompositionen

"Wenn ich keinen Text hätte oder auch keine Bilder, dann wäre ich die meiste Zeit des Tages tot. zum Glück gibt es Texte und Bilder, die einen dauernd lebendig halten. Ich meine das völlig ernst", hat Genazino gesagt. Seine "Abschaffel"-Trilogie, seine schmalen, immer gleichen Bücher lesen sich wie ein großer Roman des Alltags und der bundesdeutschen Psyche. Dabei war Wilhelm Genazino, der Porträtist der Angestellten, ein Angestellter seiner selbst. Von morgens halb acht, Kaffeepausen, aus dem Fenster schauen inbegriffen, saß er – computerabstinent – an seiner "Gabriele", die mechanische Schreibmaschine als Quelle subversiver, fast tänzelnd leichter literarischer Kompositionen, beflügelt von klassischer Musik im Hintergrund.

Literatur und Humor waren Fluchtwege aus der Tristesse des Alltags. Genazino, ein Meister leiser Pointen, brachte Humor in die bundesrepublikanische Literaturlandschaft. Hinreißend sein Essay über das Lachen bei Adorno oder Buch-Titel wie der letzte: "Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze". Kein Zufall, dass er einst für die Satire-Zeitschrift "Pardon" geschrieben hatte. Aber, so Genazino, "dann bin ich von dieser komischen Nummer wieder heruntergekommen und hab gedacht, das ist nicht meine erste Antriebskraft. Also, ich bin weder ein Unterhalter und schon gar kein Komiker."

"Herumstehen ist Freiheit"

Frankfurt war seine Wahlheimat, nicht so "lupenrein" wie Salzburg, aber auch nicht so hässlich wie sein Ruf, ideal für Genazinos "Spaziergänge durch die Mitte Deutschlands" und als Revier seiner Feldforschung: das Postamt, das zum Kaufhaus-Postamt wurde, der Park als Betonfläche, der Supermarkt als Erlebnisort und Fluchtraum aus dem Wohnzimmer. Wilhelm Genazino, der gewichtige Autor von größter Sensibilität und Liebenswürdigkeit, verführte mit heiterer Melancholie. Ein "Ironiker wider Willen", "zwangsmelancholisiert" durch die Verhältnisse, wie er in seiner Büchner-Preisrede sagte.

Er litt an den Auswüchsen unserer Konsumwelt, an der Vulgarität der Unterhaltungsindustrie. Sein Plädoyer für Langeweile war Programm. Seine Büchner-Preisrede von 2004 klingt heute wie sein Vermächtnis. Sie enthält eine Forderung an die Unterhaltungsverantwortlichen: "Sehr geehrte Chefredakteure, Programmleiter, Fernsehdirektoren, Eventdenker, Kaufhauschefs, sehr verehrte Planer von Freizeitparks, Love-Parades und Expos und all dem anderen Nonsens. Lasst die Finger weg von unserer Langeweile! Hört auf, uns mit Euch bekannt zu machen! Hört auf, Euch für uns immer etwas auszudenken, sagt uns nicht länger, was wir wollen, lasst uns in Ruhe! Lasst uns bloß herumstehen, denn Herumstehen ist Freiheit."

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