Am ersten November-Wochenende wurde auf YouTube ein Video mit dem Titel "Gestern Abend in München … Mama Merkels Kinder beim Stadtrundgang" veröffentlicht, das sich auch über Facebook, Twitter und WhatsApp stark verbreitete: Es zeigt mehrere dunkelhäutige Männer, die durch eine Fußgängerzone gehen und dabei Mülltonnen und Blumenkübel umwerfen. Die Blumenkübel aus Ton gehen dabei zu Bruch.
Video entstand schon 2018 in Florenz
Netznutzer, die bezweifelten, dass das Video tatsächlich aus München stammt, wiesen die Polizei München auf das Video hin. Wenn es um den Verdacht auf eine Straftat – in diesem Fall Volksverhetzung handelt – muss die Polizei dem Legalitätsprinzip zufolge ermitteln.
Spezialisten des Kriminalfachdezernats 4, das Fälle von politisch motivierter Kriminalität behandelt, schauten sich das Video an und kamen zu dem Schluss, dass das Video zwar echt ist, aber nicht im November 2019 in München, sondern im März 2018 in Florenz entstanden ist. Damals machten afrikanische Migranten ihrem Unmut über die Ermordung eines senegalesischen Straßenhändlers Luft.
Seit drei Monaten erfasst die Münchner Polizei Hinweise auf Straftaten digital.
Seit dem 1. August hat es 25 Vorgänge gegeben, dazu kommen noch einige, die wir an andere lokal zuständige Dienststellen weiterleiten, etwa wenn der Urheber des Beitrags in Berlin sitzt." Florian Hirschauer vom Social-Media-Team der Münchner Polizei zu BR24.
Am häufigsten sind Hinweise auf Volksverhetzung
Ältere Statistiken gibt es nicht, dennoch deutet viel darauf hin, dass die Hinweise auf Straftaten im Netz zugenommen haben:
"Die Nutzerzahlen steigen nach wie vor. Außerdem hat die Ansprechbarkeit der Behörden zugenommen. Und auch das Meldeverhalten hat sich geändert. Es gibt sogar Gruppen, die organisiert nach möglichen Straftaten im Netz suchen und uns dann einen Schwung Links schicken. Wir sind ein digitaler Streifenwagen, der wir gar nicht sein wollen." Florian Hirschauer, Polizei München
Am häufigsten bekommt die Münchner Polizei laut Hirschauer Hinweise auf eine mögliche Volksverhetzung. Nicht jeder Fall erfülle die Kriterien von §130 StGB, manche Äußerung sei auch von der Meinungsfreiheit gedeckt. Strafbar macht sich zum Beispiel, wer eine nationale, rassische oder religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet. Bei eindeutigen Fällen legt das Team Digitale Medien der Münchner Polizei ein Aktenzeichen an und übermittelt den Fall zur Sachbearbeitung an die Kriminalpolizei. Für die Anklageerhebung ist dann die Staatsanwaltschaft zuständig.
Fremdenfeindliche Desinformation
Auch im Fall des vermeintlichen München-Videos besteht der Verdacht auf Volksverhetzung. "Der Absender des Videos wollte mit diesem Video eine gewisse Stimmung schüren. Es ging um Hetze gegen Migranten. Das hat funktioniert, weil das Video eine große Reichweite hatte", sagt Social-Media-Experte Florian Hirschauer.
Das Video ist zwar keine Fälschung, allerdings vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen, um Migranten zu diskreditieren. Diese Desinformations-Strategie verfolgen Akteure mit einer fremdenfeindlichen Einstellung immer wieder. "Wenn man sein eigenes Weltbild transportieren will, braucht man entsprechende Fakten dazu. Und wenn die nicht vorhanden sind, bedient man sich eben alten Materials, das das eigene Narrativ unterstützt", sagt Alexander Sängerlaub, Projektleiter "Stärkung digitaler Öffentlichkeit | Resilienz" bei der Stiftung Neue Verantwortung, einem Think Tank für digitale Technologien, Politik und Gesellschaft.
Polizei bei Facebook und Co. in Bittsteller-Rolle
Auch wenn das ursprüngliche Video auf YouTube inzwischen gelöscht ist, verfolgt die Münchner Polizei den Fall wegen Verdachts auf Volksverhetzung weiter. Die Krux für die Polizei liegt darin, die Identität des Uploaders zu ermitteln. Dabei ist sie auf das Entgegenkommen von YouTube, Facebook und Co. angewiesen. "Die großen Plattformen scheren sich wenig um die Bedürfnisse einer Strafverfolgungsbehörde. Wir sind da in einer Art Bittsteller-Rolle", sagt Hirschauer. Manchmal bekomme man innerhalb von zehn Minuten eine Antwort, manchmal auch auf Nachfrage nicht.
Auch Sängerlaub wünscht sich mehr Entgegenkommen von den großen Plattformen: bei der Herausgabe von Nutzungsdaten. Um zum Beispiel zu messen, wie groß die Wirkung ist, die potenziell volksverhetzende oder beleidigende Posts auslösen, wären vor allem Reichweitendaten erforderlich: Zwar kann man bei den meisten Plattformen sehen, wie oft ein Beitrag geliket, geteilt oder kommentiert wurde, nicht aber, wie vielen Benutzern er angezeigt wurde. Facebook, Instagram und Twitter zeigen nur bei Videos an, wie oft sie aufgerufen wurden, nicht aber bei Text- oder Bildposts. Bei YouTube sind Zahl der Videoaufrufe, Kommentare, Likes und Dislikes zu sehen.
Soziale Netzwerke geben kaum Reichweitendaten heraus
Diese vier Plattformen "stellen alle nur sehr vereinzelt Schnittstellen bereit, die aber keine umfassenden systematischen Analysen ermöglichen", stellt Sängerlaub in seiner Untersuchung "Der blinde Fleck digitaler Öffentlichkeiten" fest. Noch schwieriger wird die Analyse dadurch, dass Beiträge wie das vermeintliche München-Video auf verschiedenen Plattformen geteilt und kopiert werden. Auch wenn das ursprüngliche Video auf YouTube gelöscht ist, fand es sich Tage später zum Beispiel immer noch auf Twitter.
Wegen der unzureichenden Plattform-Daten könne man kaum sagen, ob die Verbreitung von Desinformation zu- oder abgenommen habe, so Sängerlaub. Was man aber sagen kann:
"Es ist einfacher geworden, Verwirrung zu stiften beziehungsweise Desinformation zu verbreiten. Für Nutzende ist es schwieriger, im Kopf zu behalten, wer der Absender ist." Alexander Sängerlaub, Stiftung Neue Verantwortung.
Fazit
Die Polizei München bekommt über ihre Social-Media-Kanäle regelmäßig Hinweise auf potenzielle Straftaten. Am häufigsten geht es dabei um den Verdacht auf Volksverhetzung. Um die Identität des Urhebers zu ermitteln, ist die Polizei in einigen Fällen darauf angewiesen, dass soziale Netzwerke, speziell YouTube, Facebook und Twitter, die Nutzerdaten herausgeben. Ob sie das tun, ist von Fall zu Fall unterschiedlich.
Durch das Netz ist es laut Stiftung Neue Verantwortung leichter geworden, diffamierende und irreführende Inhalte zu verbreiten. Wie stark sich diese verbreiten, ist nur schwer zu ermitteln, weil die Plattformen nicht genügend Nutzerdaten zur Verfügung stellen.
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