Julian Nagelsmann bekam inmitten der Impfdebatte um Joshua Kimmich während der Corona-Pandemie und der Katar-Diskussionen den Titel "Außenminister" beim FC Bayern München zugeschrieben. Eine Bezeichnung, die er nach allem, was man weiß, wirklich nie erreichen wollte. Hansi Flick fand sich nach einem formidablen Fußballjahr 2020, in dem er alle Titel errang, die es im Vereinsfußball gibt, inmitten vereinsinterner Scharmützel mit dem damaligen Sportvorstand Hasan Salihamidžić wieder. Und Thomas Tuchel stand am Samstagabend beim Sky-Interview und sagte zu seinem zwei Meter daneben stehenden Kritiker Lothar Matthäus und dem nicht anwesenden Dietmar Hamann mit beißender Ironie: "Jetzt haben wir 4:0 gewonnen, ihr müsst eine 180-Grad-Wende machen – viel Spaß dabei!"
Die drei jüngsten FC-Bayern-Trainer, drei außer-sportliche Geschichten, in denen dem Coach die Rückendeckung aus dem Klub spürbar fehlte, drei Beispiele also auch für einen Wandel beim deutschen Fußball-Rekordmeister. "Früher hätte sowas Uli Hoeneß, Kalle Rummenigge - oder wer auch immer bei den Bayern - abgeräumt. Das ist jetzt nicht passiert. Und das finde ich schon irritierend, dass Tuchel jetzt selbst entscheiden muss: Wehre ich mich jetzt? Oder wo ist die Unterstützung im Verein?", sagte der frühere Fußballer Thomas Hitzlsperger am Sonntag bei "Blickpunkt Sport" im BR Fernsehen.
Matthäus und Hamann kritisieren FCB-Coach Tuchel
Seit einigen Wochen sticheln Matthäus und Hamann in ihrer Expertenrolle gegen Tuchel, Hamann bemerkte "keine Weiterentwicklung" unter dem Trainer. Dieser sah sich nun gezwungen, öffentlich zu antworten. Und so bleibt in der Tat sechs Tage vor der nächsten Jahreshauptversammlung des FC Bayern München ein Eindruck haften: Es ist in den vergangenen Jahren und all den Wechseln abseits des Spielfeldes, allen voran den Abschieden von Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge und Präsident Uli Hoeneß, irgendwo ein Vakuum in diesem großen Fußballverein entstanden.
Ein Vakuum, das offensichtlich nur noch die Trainer in ihren regelmäßigen Spieltags-Pressekonferenzen zu füllen vermögen. Anders als die restlichen Vereinsmitglieder sind sie bei diesen Terminen ja verpflichtet, mit der Presse zu reden. Und immer öfter werden ihnen dabei auch nicht-sportliche Fragen gestellt, weil diese anderswo noch nicht beantwortet worden sind.
Hitzlsperger: Ergebnisse helfen Tuchel in der Debatte
Das war bei der Debatte um Joshua Kimmichs Impfung und Katar so und das ist nun auch bei der Kritik von Matthäus und Hamann so: Der Trainer ist nicht nur das Gesicht des Vereins, er ist auch seine Stimme, die in all den Unruhen, die dieser polarisierende und strahlkräftige Verein durchlebt, Rede und Antwort stehen muss.
Und das ist wahrlich nicht immer leicht, auch dann nicht, wenn es der Trainer selbst ist, der im Mittelpunkt der Kritik steht. "Er spürt vielleicht diesen Rückhalt gerade nicht, den man braucht. Wenn er angegriffen wird, braucht er Leute, die hinter ihm stehen. Wenn er das nicht spürt, muss er sich selber verteidigen", sagt Hitzlsperger. Was dem Trainer aber nun helfe, seien Ergebnisse - gerade in der "Weiterentwicklungs-Debatte". Das Spiel in Dortmund sei deshalb die "beste Antwort, die man geben kann" gewesen. So erklärt sich Hitzlsperger auch Tuchels überschwängliche Reaktion auf Matthäus und Hamann. (Die diese im Übrigen mehr oder weniger wiederum kritisierten, das nur am Rande.)
Im Video: Thomas Hitzlsperger über Bayern-Coach Tuchel in "Blickpunkt Sport"
"Abteilung Attacke" beim FC Bayern weiter vermisst
Die Reaktion vom Rest des Vereins? Folgte öffentlich erst am Sonntag, als die meisten Fernsehgeräte schon ausgeschaltet und die ganz große Aufmerksamkeit verflogen war. Bei "Magenta Sport" wurde FC-Bayern-Präsident Herbert Hainer interviewt und lobte offensiv: "Insgesamt finde ich es gut, dass der Thomas ein Stoppschild gesetzt hat. Und gesagt hat: 'Jetzt ist es aber auch wieder gut. Bis hierher und nicht weiter.' Mir gefällt das, dass er so wehrhaft ist. Denn er hat genügend Druck, wie wir alle beim FC Bayern München."
Da spricht er einen Punkt an. Tuchel hat wie seine Vorgänger eigentlich schon genügend sportliche Aufgaben beim Rekordmeister, da sollte er eigentlich eher weniger Nebenschauplätze behandeln müssen. Nur bemerkt man eben auch: Hainer, Vorstandschef Jan-Christian Dreesen und Sportdirektor Christoph Freund (sowie deren Vorgänger Oliver Kahn und Salihamidžić) gehen ihre Aufgaben nach außen hin merklich ruhiger als Hoeneß und Rummenigge an. Weniger Typ "Abteilung Attacke", die unentwegt ihre verbalen Giftpfeile verschießt und die Chefkritiker zur Räson zieht.
Hoeneß lobt Tuchels Vorgänger Nagelsmann
Zumindest im Hintergrund sollen sie aber bereits Druck auf den TV-Sender ausgeübt haben. Moderator Sebastian Hellmann berichtete bei "Bild TV", dass es mit den Verantwortlichen des FC Bayern bereits einen Austausch gegeben haben soll: "Die Bayern hatten irgendwie das Gefühl, dass wir nicht fair gewesen wären an dem Tag. Wir wollen uns annähern. Wir haben keine Lust auf eine Konfrontation." Auch mit Tuchels Berater will Hellmann noch sprechen.
Die "Abteilung Attacke" verspürten die Trainer im Übrigen zuletzt manchmal eher intern. Bei Nagelsmann und Flick krachte es mit Salihamidžić und/oder Kahn, Tuchel durfte vor wenigen Wochen vom expliziten Lob von Uli Hoeneß für seinen Vorgänger Nagelsmann im BR-Stammtisch hören. Denn der sagte, dass es "nicht unbedingt klug" gewesen sei, den Trainer auszutauschen.
Unmittelbar vor der zweiten DFB-Pokalrunde stellte Hoeneß Tuchel nun Wintertransfers in Aussicht, wenn der Klub dann "noch in allen drei Wettbewerben" dabei sei. Es war das erste öffentliche Eingeständnis aus der Aufsichtsratsriege, dass der Kader vielleicht doch "zu dünn" sei, was Tuchel seit der vermaledeiten Sommertransferphase bemängelt. Nun ist der FCB beim 1. FC Saarbrücken gescheitert. Was das für Hoeneß' Ankündigung bedeutet, ist bislang nicht klar.
Mazraoui-Frage aus dem Vorstand heraus gelöst
Dass das mit dem Vakuum nicht durchweg in allen Vereinsfragen gilt, zeigte jüngst auch ein anderes Beispiel: Die Debatte um Noussair Mazraoui bildet eine bemerkenswerte Ausnahme. Sie offenbart auch, welch Chance die Bayern im Binnenverhältnis mit ihrem Coach haben, wenn sie Debatten an anderer Stelle lösen. Da veröffentlichte der Klub sein Statement zur Entscheidung, den Marokkaner im Kader zu belassen, nach dessen Pro-Palästina-Posts just vor Tuchels Pressekonferenz.
Zwar war es wieder Tuchel, der als erster Vereinsvertreter vor die Kameras trat, doch man merkte Tuchel wenige Minuten später an, wie glücklich er darüber war, sich bei der anschließenden Spieltags-Pressekonferenz auf die Klubaussagen berufen zu können - und selbst statt über die grundsätzliche Klubentscheidung über den Stellenwert Mazraouis und des Israelis Daniel Peretz in der Kabine sprechen zu können.
Zum Thema Matthäus und Hamann contra Tuchel meinte Hitzlsperger übrigens, dass es nun am besten wäre, wenn mit den Scharmützeln Schluss wäre: "Wenn alle sagen: 'Jetzt haben wir ausgeteilt und eingesteckt. Ende der Durchsage. Jetzt sprechen wir wieder über Fußball!'" Das bleibt vermutlich Wunschdenken.
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