Der Streit um die Corona-Zahlen des Robert Koch-Instituts ist fast so alt wie die Corona-Zahlen selbst. Corona-Leugner oder -Relativierer zweifeln diese Statistik immer wieder an.
Zu diesem Lager kann man auch die Querdenken-Bewegung zählen. Seit Oktober 2020 veröffentlicht ein bayerischer Querdenker auf seinem YouTube-Kanal fast jeden Tag ein Video, in dem er versucht zu zeigen, dass die 7-Tage-Inzidenz deutlich niedriger liegt, als vom RKI täglich angegeben. Er wertet die Daten zu den Corona-Fällen nach einer anderen Bezugsgröße aus.
Die Zugriffe auf diese Videos sind in den vergangenen Wochen gestiegen, ebenso die Anzahl der Kommentare. Auch in sozialen Netzwerken wurden Links zu diesen Videos in der vergangenen Woche vermehrt geteilt.
In diesem Faktenfuchs wollen wir zeigen, warum die Systematik hinter den Zahlen auf dem Covid-19-Dashboard des Robert Koch-Instituts ihre Berechtigung hat - und zu welchen statistischen Kniffen der Querdenker greift, um diese Zahlen anzuzweifeln.
Für die RKI-Statistik ist das Meldedatum ausschlaggebend
Die drei zentralen Kategorien im Covid-19-Dashboard des RKI sind der 7-Tage-Inzidenzwert, die Covid-19-Fälle pro Tag und die täglich gemeldeten Covid-19-Todesfälle.
Der 7-Tage-Inzidenzwert wird berechnet aus der Summe der Covid-19-Fälle, die die Landesgesundheitsämter für die letzten 7 Tagen an das RKI gemeldet haben. Diese Summe wird dann durch die Bevölkerung, etwa eines Landkreises, geteilt und auf 100.000 umgerechnet. So weit, so einfach. Auf dem RKI-Dashboard ist die Zahl der pro Tag gemeldeten Neuinfektionen in einem Diagramm mit der Bezeichnung "Covid-19-Fälle/Tag (nach Meldedatum)" aufgeführt.
Beim Meldedatum handelt es sich um das Datum, an dem das lokale Gesundheitsamt Kenntnis über den Fall erlangt und ihn elektronisch erfasst hat. Im Idealfall übermittelt das Gesundheitsamt alle seine Covid-19-Fälle noch am selben Tag an das Robert Koch-Institut. Es gibt jedoch immer wieder Fälle, in denen sich die Übermittlung verzögert - das zählt dann zum sogenannten Meldeverzug. Die Werte werden also jeden Tag auch rückwirkend ergänzt. Die tatsächliche tagesaktuelle 7-Tage-Inzidenz dürfte schon deshalb immer ein wenig höher liegen als vom RKI angezeigt - und dann ist da auch noch die Dunkelziffer an Fällen, die nicht festgestellt werden, zu beachten.
Verwirrung um die täglich gemeldeten Neuinfektionen
Für die Zahl der am jeweiligen Tag gemeldeten Neuinfektionen, die das RKI und viele Medien täglich vermelden und die im Dashboard ein extra Kästchen hat, müsste man streng genommen vom Übermittlungsdatum sprechen - das sind die Fälle, die innerhalb von 24 Stunden beim RKI in der Datenbank "ankamen".
Ein Beispiel: Am 16. April vermeldete das RKI 25.831 neue Covid-19-Fälle. Das heißt, dass die Gesundheitsämter am Tag zuvor, also dem 15. April, 25.831 Fälle ans RKI übermittelt haben. Bei 17.319 Fällen war der 15. April auch der Tag, an dem der Corona-Fall als solcher deklariert worden war.
Die restlichen Fälle fallen in die Kategorie "Meldeverzug": 7237 Fälle wurden dem RKI ebenfalls am 15. April übermittelt, hatten aber als Meldedatum den 14. April. 970 am 15. April übermittelte Fälle sind vom 13. April und so weiter.
Nachgemeldete Fälle werden nachträglich zum Meldedatum addiert
Diese Systematik ist auch im RKI-Dashboard nachvollziehbar. Die blauen Balken zeigen die Fälle der letzten Tage, die schon bekannt waren. Die am aktuellen Tag neu gemeldeten Fälle (in diesem Fall am 16.4.) werden gelb dargestellt. Darum ist der 15. April ganz gelb - weil das die allerneuesten Zahlen sind. Die blauen Balken der vorherigen Tage sind durch die Nachmeldungen am oberen Ende mit den gelb dargestellten, nachträglich gemeldeten Fällen ergänzt worden.
Die gelben Balken summieren sich in diesem Fall in etwa zum Gesamtwert von 25.831. (Tatsächlich ist die Summe etwas größer, im Zuge einer Qualitätskontrolle fallen einzelne Fälle dann wieder heraus).
Das RKI trennt also die gemeldeten Covid-19-Fälle nach Meldedatum und die am aktuellen Tag hinzugekommenen Covid-19-Fälle klar voneinander. Der genaue Infektionszeitpunkt der gemeldeten Fälle kann in aller Regel nicht ermittelt werden.
"Das Meldedatum an das Gesundheitsamt spiegelt daher am besten den Zeitpunkt der Feststellung der Infektion und damit das aktuelle Infektionsgeschehen wider" Erläuterungen des RKI zum Covid-19-Dashboard.
Jede SARS-CoV-2-Infektion wird als Covid-19-Fall gewertet
So wird jede durch einen positiven PCR-Test festgestellte Corona-Infektion auf die gleiche Weise erfasst, egal, ob sie zu Symptomen führt oder nicht: "In Einklang mit den internationalen Standards der WHO und des ECDC wertet das RKI alle labordiagnostischen Nachweise von SARS-CoV-2 unabhängig vom Vorhandensein oder der Ausprägung der klinischen Symptomatik als COVID-19-Fälle", wie das RKI in den Erläuterungen zum Covid-19-Dashboard schreibt. Die WHO ist die Weltgesundheitsorganisation, beim ECDC handelt es sich um das European Centre for Disease Prevention and Control.
Wir halten also fest: Für die Berechnung der 7-Tage-Inzidenz verwendet das RKI das Meldedatum von Covid-19-Fällen.
Querdenker arbeitet mit falscher Bezugsgröße
Der bayerische Querdenker bezeichnet in seinen aktuellen Videos die offiziellen Corona-Zahlen des RKI als "Viele-Tage-Unsinnszahlen" - und setzt ihnen einen niedrigeren Wert entgegen. Während das RKI zum Beispiel für den 16.4. eine 7-Tage-Inzidenz von 160,1 vermeldete, sprach der Querdenker in seinem Video von einer Inzidenz von "nur" 126,5. Das tut er in jedem seiner Videos zu den Covid-19-Zahlen des RKI und wirft der Behörde dabei regelmäßig vor, "nicht bis sieben zählen zu können".
Wie kommt er zu diesen niedrigeren Zahlen? Der Mann hat sich die Daten vom Covid-19-Datenhub in ein Tabellenkalkulationsprogramm geladen und führt dort seine eigenen Berechnungen durch. Im Unterschied zum RKI wertet er in seinen Videos die Zahl der täglichen Covid-19-Fälle nach dem Referenzdatum aus.
Das Referenzdatum ist ein zusammengesetzter Wert: Dabei handelt es sich entweder um das Erkrankungsdatum, wenn dieses für eine Fallmeldung angegeben wurde. Falls das Erkrankungsdatum nicht bekannt ist, wird stattdessen das Meldedatum als Referenzdatum verwendet.
Das Erkrankungsdatum ist der Tag, an dem der Patient nach eigener Angabe bzw. nach Angabe des behandelnden Arztes mit klinischen Symptomen erkrankt ist. Es ist aber aus verschiedenen Gründen schlecht geeignet, um das aktuelle Infektionsgeschehen zu messen:
- In vielen Fällen liegt es gar nicht vor. Wenn das Erkrankungsdatum unbekannt ist oder es sich um Fälle ohne Symptome handelt, verwendet das RKI, wie bereits erwähnt, ersatzweise das Meldedatum.
- Vor allem für die jeweils jüngsten Tage gibt es kaum Fallmeldungen mit Erkrankungsdatum. Das liegt am Ablauf der Meldekette: Angenommen, jemand hat am 14. April die ersten Symptome (Erkrankungsdatum = 14. April) und bekommt am 15. April einen Termin für einen Corona-Test. Dieser Test kommt bestenfalls noch am 15. April aus dem Labor ins Gesundheitsamt (Meldedatum = 15. April) und von dort aus ans RKI, welches den Fall dann am 16. April neu im Dashboard hat.
- Das Erkrankungsdatum kann sogar nach dem Meldedatum liegen - etwa in Fällen, in denen ein positiver Labortest durchgeführt wurde, bevor die getestete Person Symptome entwickelt hat.
Das Meldedatum wird immer nach dem gleichen Maßstab festgelegt, während das Referenzdatum ein zusammengesetzter Wert aus zwei Systematiken ist.
Referenzdatum und Meldedatum: Fälle verteilen sich anders
Ein Beispiel, wie sich der Unterschied in der Berechnung der 7-Tage-Inzidenz auswirkt: Nehmen wir zwei Fälle mit dem Meldedatum 14. April. Bei Fall 1 ist das Erkrankungsdatum ebenfalls der 14. April, bei Fall 2 traten bereits am 12. April Symptome auf. In der Auswertung nach Meldedatum zählen beide Fälle für den 14. April.
In der Auswertung nach dem Referenzdatum würde Fall 1 für den 14. April gewertet werden und Fall 2 für den 12. April. Wo das RKI bei der Inzidenzberechnung also für den 14. April zwei Fälle zählt, zählt der Querdenker nur einen Fall. Sieht man sich die aktuell gemeldeten Fälle nach Referenzdatum an, verteilen sie sich also weiter in die Vergangenheit und werden somit fast nie für volle sieben Tage in die Inzidenz aufgenommen.
Der Meldeverzug wirkt sich hier noch stärker aus, als oben für das Meldedatum beschrieben: Ein Fall, der zwei Tagen "zu spät" beim RKI ankommt, ist bei der Zählung nach Meldedatum immerhin noch fünf Tage Teil der Inzidenz. Hat dieser Fall jedoch ein Erkrankungsdatum, das drei Tage vor dem Meldedatum liegt, zählt er bei der Auswertung nach Referenzdatum nur zwei Tage lang hinein.
Referenzdatum lässt Fälle bei der Bewertung des Infektionsgeschehens außen vor
Ein weiteres Rechenbeispiel, dass den Unterschied deutlich zeigt: Nach Meldedatum liegt die 7-Tage Fallzahl für ganz Deutschland am 16. April bei 133.181 - nach Referenzdatum bei 105.391. 27.790 Fälle wurden also zwischen dem 9. und 15. April gemeldet, deren Referenzdatum vor dem 9. April lag.
Der bayerische Querdenker argumentiert, dass diese Fälle für die aktuelle Inzidenz schlichtweg nicht verwendet werden dürfen - so kommt er regelmäßig auf seine niedrigen Werte.
Von diesen 27.790 Fällen hatten aber 6695 das Referenzdatum 8. April, 6044 das Referenzdatum 7. April. 2872 Fälle hatten ein Referenzdatum, das mehr als 14 Tage in der Vergangenheit lag. Bei der Berechnung nach Referenzdatum kommen also viele Fälle, die ohne Zweifel noch zum aktuellen Infektionsgeschehen zählen, in der 7-Tage-Inzidenz nie vor.
Corona-Kennzahlen sind immer vom Meldeverzug und von der Dunkelziffer betroffen - egal, ob sie das Meldedatum oder das Referenzdatum als Bezugsgröße haben. Das Infektionsgeschehen kann nie in Echtzeit betrachtet werden. Durch die Verwendung des Meldedatums als Bezugsgröße fallen aber weniger Fälle ganz aus der Berechnung und Bewertung nach 7-Tage-Inzidenz heraus. Die Systematik seiner Erfassung ist außerdem einheitlich geregelt und in sich geschlossen.
Querdenker erfindet einen statistischen Wert
Der Querdenker berechnet darüber hinaus auch noch den "7-Tage-Inzidenzwert für symptomatische Fälle", indem er nur die Fälle berücksichtigt, die ein Erkrankungsdatum angegeben haben.
Im Video vom 16. April kommt er so für die sieben Tage zuvor auf 28,5 Personen pro 100.000 Einwohner, die Symptome hätten. Im Covid-19-Dashboard gibt es jedoch gar keinen "7-Tage-Inzidenzwert für symptomatische Fälle", weil es vom Infektionsgeschehen her keinen Grund gibt, diese Fälle zu trennen. Auch nicht-symptomatische Corona-Infizierte können andere anstecken.
Todesfälle: Vergleich hinkt
Auch bei den Covid-19-Todesfällen innerhalb der letzten 24 Stunden ist der Vergleich schwierig bis unmöglich. Das RKI zeigt auf dem Dashboard die Zahl der Todesfälle, die ihm von den Gesundheitsämtern in den letzten 24 Stunden übermittelt worden sind. Darüber hinaus wertet das RKI die ihm übermittelten Todesfälle gesondert nach Sterbedatum und Kalenderwoche aus: Aktuellster Stand ist hier die Woche vom 5. bis 11. April (die Woche nach Ostern), für die 175 verstorbene Personen gemeldet wurden.
Der Wert der wöchentlichen Corona-Toten schwankt stark: Von 12 Verstorbenen in der ersten März-Woche 2020 bis zu 6245 Verstorbenen in der Woche vor Weihnachten 2020. Auch in dieser Auswertung kommt es immer zu Nachmeldungen, gerade nach Feiertagen.
Der Querdenker wiederum berechnet - auf Grundlage einer anderen, nämlich der Erkrankungsstatistik - eine Zahl für Covid-19-Todesfälle aus dem Falldatensatz. Dabei nimmt er die mittlere Dauer (Median) von Symptombeginn bis zum Tod für einen von ihm gewählten Zeitraum von 13 Tagen als Grundlage. Er verwendet also eine statistische Größe, um eine Covid-19-Todesfall-Wert zu errechnen, während das RKI die Todesfälle nach dem tatsächlich gemeldeten Sterbedatum auswertet und im Dashboard explizit die neu gemeldeten Todesfälle als eine einzelne Zahl zeigt.
Fazit
Die Behauptung eines bayerischen Querdenkers, die drei zentralen Corona-Zahlen - 7-Tage-Inzidenz, tägliche Covid-19-Fälle und tägliche Covid-19-Todesfälle - seien stets niedriger als vom RKI kommuniziert, ist falsch. Der Querdenker versucht, die RKI-Zahlen mit anderen RKI-Zahlen zu widerlegen. Er verwendet dabei statt des Meldedatums eine andere Bezugsgröße: Das aus mehreren Gründen zur Berechnung der Inzidenz weniger geeignete Referenzdatum. Die Corona-Zahlen sind nicht, wie von dem Querdenker behauptet, niedriger als im Corona-Dashboard tagesaktuell sichtbar, sondern wegen Nachmeldungen und Dunkelziffer sogar eher höher.
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