In manchen Ländern der Welt ist es nicht einfach, Brücken zu bauen. So zum Beispiel im nordindischen Bundesstaat Meghalaya. Die Laubwälder sind dicht und feucht, durch den Monsun schwellen Flüsse an und es gibt tiefe Schluchten zu überwinden. Holzbrücken vermodern leicht. Auch Brücken aus Stahl und Beton kommen an ihre Grenzen. Ganz anders verhält es sich aber mit Brücken aus lebenden Baumwurzeln. Sie überdauern Jahrhunderte.
Alte indische Vorbilder für moderne Architektur
Schon die indigenen Völker im nordindischen Bundesstaat Meghalaya bauten ihre Brücken aus den lebenden Luftwurzeln des Gummibaums Ficus elastica. "Solche stabilen Brücken aus ineinander verschlungenen Wurzeln können mehr als 50 Meter lang und mehrere Hundert Jahre alt werden", sagt Ferdinand Ludwig, Professor für Green Technologies in Landscape Architecture an der Technischen Universität München. Ludwig hat diese klimafreundlichen und nachhaltigen Bauwerke untersucht und möchte ihre spezielle Bautechnik in die moderne Architektur integrieren.
Kaum Dokumentationen über alte Bautechnik
Gemeinsam mit Thomas Speck, Professor für Botanik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, hat er 74 solcher lebenden Brücken analysiert. Denn wissenschaftliche Untersuchungen über die berühmten Meghalaya-Brücken gab es bislang nur wenige. Auch war das Wissen um die alten Bautechniken bislang kaum schriftlich dokumentiert. Um einen Überblick über die komplexe Wurzelstruktur zu gewinnen, machten die Forscher mehrere tausend Fotos der Brücken und erstellten daraus 3D-Modelle. Die Ergebnisse ihrer Studien veröffentlichten sie am 22. August 2019 in den Scientific Reports.
Brücken, die sich selbst bauen
Da es kaum Schriftliches über die alte Bautechnik gibt, führten die Forscher Interviews mit den Männern und Frauen, die diese Brücken bauen. Streng genommen handelt es sich um Brücken, die sich selbst bauen, denn man beginnt, wenn man eine Brücke plant, mit einem Setzling des Ficus elastica an einem Flussufer oder am Rand einer Schlucht. Später entwickelt die Pflanze kleinere Tochterwurzeln und Luftwurzeln. Diese werden dann um eine Hilfskonstruktion aus Bambusstangen oder Palmenstämmen geschlungen und horizontal über den Fluss geleitet. Dann hilft nur noch Abwarten: Wenn die Wurzeln bis ans andere Ufer gewachsen sind, werden sie dort eingepflanzt.
Wurzelwerk bildet mechanisch stabile Brücke
Die Pflanzen wachsen stetig nach und durch verschiedene Schlingtechniken bilden die Ficus-Wurzeln schließlich komplexe Strukturen, die die Brücken mechanisch äußerst stabil werden lassen. In diesem Prozess spielt eine besondere Eigenschaft des Ficus elastica eine wichtige Rolle: Kommt es zu mechanischen Belastungen, weil zwei Wurzeln zusammengepresst werden, dann verbinden sich diese und verwachsen miteinander. Ähnlich wie beim Wundverschluss von Bäumen.
Nachhaltige, aber zeitintensive Brücken-Bautechnik
So nachhaltig und klimafreundlich die Bauweise auch ist, unter Zeitdruck lässt sich eine lebende Brücke nicht bauen. Es dauert Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, bis sie gewachsen ist. An ihrem Bau beteiligen sich oftmals mehrere Generationen von Dorfbewohnern. Und die Bauweise funktioniert auch nur im subtropischen Klima. In gemäßigten Breiten bilden Bäume keine Luftwurzeln.
Pflanzen als Baustoffe versprechen Abkühlung in Städten
Ludwig, der selbst Architekt ist, nutzt die alte Bautechnik der indigenen Völker, um die moderne Architektur weiterzuentwickeln. Er bezieht Pflanzen beim Planen und Bauen von neuen Häusern ein und begründete mit diesem Ansatz das Forschungsgebiet der Baubotanik. Integriert man die Pflanzen in moderne Bauwerke, sorgen sie für Kühlung und ein besseres Klima in der Stadt. "Stein, Beton und Asphalt heizen sich bei hohen Temperaturen schnell auf, besonders in den Städten entsteht Hitzestress", erklärt Ludwig. Mit den lebenden Baustoffen könne man sich besser an die Folgen des Klimawandels anpassen.