Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über neue Corona-Maßnahmen diskutiert wird. Zuletzt war es der Vorschlag zweier CDU-/CSU-Politiker, die Weihnachtsferien zu verlängern, um zu verhindern, dass Schülerinnen und Schüler das Virus nach den Ferien mit in die Schule bringen könnten.
Studie aus Bonn: Schulen sind keine Pandemietreiber
Mitten hinein in diese Diskussion platzt eine Studie vom 13. Oktober 2020 des Bonner Institute of Labor Economics (IZA). Studienleiter Ingo Isphording und seine Kollegen Marc Lipfert und Nico Pestel haben darin untersucht, ob die Wiedereröffnung der Schulen nach den Sommerferien die Zahl der mit SARS-CoV-2-Infizierten erhöht hat.
Ihre knappe Antwort lautet: Das tat sie nicht. In ihrem rund 40 Seiten langen Diskussionspapier kommen sie zu dem Schluss, dass das Infektionsgeschehen nicht angeheizt, sondern sogar abgebremst wurde. "Dieses Ergebnis entspricht sicher nicht dem, was wir erwartet hätten", zeigt sich Ingo Isphording selbst überrascht.
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Das föderale System im Pandemiegeschehen
Die Sorge, dass in Schulen neue Infektionsherde entstehen, konnte das Team entkräften, zumindest, was den Schulneustart in Deutschland nach den Sommerferien betrifft. Das föderale Schulsystem hierzulande spielte ihnen bei ihrer Analyse entscheidend in die Karten. In den 16 Bundesländern enden die Sommerferien zeitversetzt: angefangen in Mecklenburg-Vorpommern, wo die Schulferien bereits am 3. August endeten, bis hin zu Baden-Württemberg, die erst am 14. September wieder in den regulären Schulbetrieb starteten. Wenn sich in allen Bundesländern zeitgestaffelt ein gemeinsamer Effekt herausbildet, müsse es "einen systematischen Zusammenhang geben", sagt Isphording.
Untersuchungszeitraum: Fünf Wochen im Sommer
Er und seine Mitautoren untersuchten die tägliche Anzahl bestätigter Infektionszahlen getrennt nach Altersgruppen des Robert-Koch-Instituts für alle 401 Landkreise in Deutschland rund um den Beginn des neuen Schuljahrs. Dabei erfassten sie in den jeweiligen Bundesländern die Werte der letzten zwei Ferienwochen und die der ersten drei Schulwochen (im Zeitraum 1. Juli bis 5. Oktober 2020).
Allen Bundesländern gemeinsam war, dass die Infektionszahlen zum Ende der Sommerferien hin (Ende Juni) wieder anstiegen, zu der Zeit aber noch auf einem relativ niedrigen Level waren. Allerdings – und das ist anders als beim Höhepunkt der Pandemie Anfang April, als der Anteil der über 60-Jährigen sehr hoch war – sind im Sommer die 15- bis 34-Jährigen am häufigsten mit dem Coronavirus infiziert. Zu der Zeit wurden die Reiserückkehrer aus dem Sommerurlaub als Hauptgrund für die erneut angestiegenen Fallzahlen angesehen.
Die Schule beginnt, die Fallzahlen gehen zurück
Die Autoren verglichen die tägliche Differenz der Fallzahlen zwischen Landkreisen in Bundesländern mit endenden Sommerferien mit denen weiterhin geschlossener Schulen über fünf Wochen. Die folgende Abbildung veranschaulicht die Ergebnisse ihrer Analyse. Dabei zeigt sich, dass vor dem Ende der Sommerferien die Unterschiede nahe Null sind, die relativen Unterschiede vor der Wiederöffnung der Schulen haben sich nicht verändert.
Erst nach dem Ende der Schulferien treten Unterschiede auf: Die relativen Fallzahlen gehen nach den Sommerferien zurück, die Entwicklung verlangsamt sich. Drei Wochen nach der Sommerpause macht die Differenz im Schnitt 0,55 Fälle pro Tag je 100.000 Einwohner weniger aus. Bei der Altersgruppe der unter 14-Jährigen ist der Effekt mit durchschnittlich 1,39 Fällen noch größer. Der Effekt konzentriert sich auf Personen im Alter bis 34 Jahren. Auf Menschen, die älter als 60 Jahre sind, scheinen die Schulöffnungen keinerlei Auswirkungen zu haben.
Strenge Hygiene und Vernunft der Eltern gegen Schulschließungen
Die Autoren erklären sich die Verlangsamung des Infektionsgeschehens aufgrund der strengen Hygienemaßnahmen an den Schulen: feste Gruppen, Maskenpflicht auf den Gängen und unter Umständen im Unterricht, Erhöhung der Coronatests. Auch der Appell an die Eltern, ihre Kinder bei Anzeichen von Schnupfen, Husten und Heiserkeit zu Hause zu lassen, bis klar ist, ob es sich um eine einfache Erkältung handelt, bewahrt die Schülerinnen und Schülern vor einer möglichen Quarantäne.
Ergebnisse lassen sich nicht auf die kältere Jahreszeit übertragen
Die Autoren räumen ein, dass sich die Studienergebnisse nicht auf die aktuelle Situation und den kommenden Winter übertragen lassen. Insgesamt liegen die Infektionszahlen derzeit auf einem sehr viel höheren Niveau. Auch ist es schwieriger, in der kalten Jahreszeit die Aerosole in geschlossenen Räumen – die Hauptverdächtigen beim Infektionsgeschehen – zu bekämpfen, da das Lüften bei Temperaturen im einstelligen Bereich eine Herausforderung darstellt. Dies war bei warmen Temperaturen im August und September noch kein Problem.
Schulschließungen nur als letzte Möglichkeit sehen
Die Studie könnte nach Ansicht der Autoren eine Argumentationsgrundlage sein, wenn bei einem weiter steigenden Infektionsgeschehen wieder laut darüber nachgedacht wird, ob Schulen geschlossen oder die Weihnachtsferien verlängert werden sollen. Statistisch gesehen seien offene Schulen jedenfalls keine Treiber der Pandemie, schlussfolgert Isphording.
In seiner Studie flossen allerdings keine Überlegungen darüber ein, ob die statistischen Messdaten auch darauf hindeuten könnten, dass Kinder generell weniger von schweren Verläufen bei SARS-CoV-2-Infektionen betroffen sind bzw. dass ihre Erkrankungen oft asymptomatisch verlaufen. Dies zu untersuchen ist aber auch nicht Aufgabe des Instituts.
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