Autos dröhnen in den Ohren wie Flugzeuge. Lampen blenden grell wie Scheinwerfer. Wassertropfen aus der Dusche schmerzen wie Nadelstiche. Solche Eindrücke, die den meisten Menschen im Alltag kaum auffallen, werden von vielen Autisten quälend intensiv wahrgenommen. Menschen, die von der sogenannten Autismus-Spektrum-Störung betroffen sind, werden heute oft als hypersensibel bezeichnet. Das war jedoch nicht immer so.
Zurückgezogenheit als Merkmal für Autismus
Mit dem Begriff "Autismus" beschrieb der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler 1911 ein Merkmal der Schizophrenie. Die Bezeichnung leitet sich vom griechischen Wort "autos" - "selbst" - ab und sollte auf die Selbstbezogenheit, das Abkapseln von der Umwelt, hinweisen. Als eigenständige Störung wurde Autismus in den 1940er-Jahren vom Kinderpsychiater Leo Kanner und dem Kinderarzt Hans Asperger erkannt. Sie beobachteten verschiedene Ausprägungen und schilderten Beeinträchtigungen im Sozialverhalten und in der Empathiefähigkeit Betroffener. Und sie unterschieden: Während sich Menschen mit Schizophrenie aktiv in ihr Innerstes zurückziehen würden, würden Menschen mit Autismus von Geburt an in einem Zustand der inneren Zurückgezogenheit leben. Ab da galt diese Zurückgezogenheit als Kern der Erkrankung.
Autismus-Spektrum-Störung bezeichnet vielfältige Autismus-Formen
Mittlerweile weiß man, dass dieser Ansatz den vielen verschiedenen Ausprägungen von Autismus nicht gerecht wird. Heute werden unter anderem frühkindlicher Autismus, das Asperger-Syndrom und atypischer Autismus unterschieden. Die Symptome und das Niveau der Beeinträchtigungen können dabei sehr unterschiedlich ausfallen. Weil auch immer häufiger leichtere Formen von Autismus diagnostiziert werden und ihre Unterscheidung in der Praxis schwieriger fällt, wird mittlerweile häufig der Oberbegriff "Autismus-Spektrum-Störung" (ASS) verwendet. Genaue Zahlen, wie viele Menschen damit in Deutschland leben, existieren nicht. Michele Noterdaeme, Chefärztin der Josefinum Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Augsburg, schätzt, dass rund ein Prozent der deutschen Bevölkerung von Autismus betroffen ist. Untersuchungen aus Europa, Kanada und den USA gehen davon aus, dass es sechs bis sieben von 1.000 Menschen sind.
Mögliche Merkmale, die auf Autismus hinweisen
Laut dem Bundesverband autismus Deutschland e.V. ist Autismus "eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung". Häufig bezeichnet man Autismus-Spektrum-Störungen auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung. Die wiederum können sich auswirken auf die soziale Interaktion, die Kommunikation und das Verhalten. Vielen Autisten fällt es zum Beispiel schwer, soziale und emotionale Signale von Mitmenschen zu deuten und darauf zu reagieren. Sie vermeiden Blick- und Körperkontakt und wirken wie taub. Viele Betroffene sind auf bestimmte Interessen und Rituale fixiert und kommen schlecht mit Veränderungen zurecht. Dafür können Autisten in Teilbereichen besonders begabt sein. Besonders Menschen mit Asperger-Syndrom besitzen "eine normale allgemeine, in Teilgebieten besonders hohe Intelligenz", schreibt der Bundesverband autismus.
Die Entdeckung der Hypersensibilität
Der israelische Hirnforscher Henry Markram war bereits ein berühmter Hirnforscher, als in den 1990er-Jahren sein Sohn Kai zur Welt kam. Mit Autismus. "Ein besonderer Zufall", sagt Markram heute. Kai entwickelte sich nicht wie andere Kinder, kapselte sich ab und flüchtete sich in Rituale: Morgens ging er nicht ohne die richtigen Socken aus dem Haus. Abends nicht ohne ein Brot mit Hüttenkäse und das richtige Kissen ins Bett. Duschen versetzte ihn in Panik. Laut Markram besaß der kleine Kai aber auch die Gabe, sich in Menschen hineinzuversetzen, war durchaus auch gesellig und liebte es, Menschen zu umarmen. Mit der Zeit erkannte Henry Markram: Sein Sohn Kai schien zu viel - und eben nicht zu wenig - zu fühlen. Das passte jedoch nicht zu den bis dato gängigen wissenschaftlichen Annahmen. Um seinen Sohn besser verstehen zu können, spezialisierte sich Markram auf neurologische Autismusforschung. Sein Verständnis von Autismus hat sich seither grundlegend geändert.
"In so gut wie jeder wissenschaftlichen Veröffentlichung steht, dass Autisten nicht interagieren können. Dass sie Tätigkeiten bevorzugen, die sich ständig wiederholen. Dass es ihnen an Empathie mangelt und dass sie die Gefühle und Absichten von anderen nicht erkennen können. Manchen Theorien zufolge hatten Autisten überhaupt keine Gefühle. Kai war das absolute Gegenteil. Das passte überhaupt nicht zum damaligen Verständnis von Autismus. Also fingen wir an zu forschen." Hirnforscher Henry Markram, École Polytechnique Fédérale de Lausanne, Schweiz
Laut Markram haben Autisten das "Intense World Syndrom"
Henry Markram geht seit rund zehn Jahren von einer Überfunktion im Gehirn der Betroffenen aus. Er stellte fest, dass ihre Gehirnzellen deutlich aktiver sind als die von Nicht-Autisten und doppelt so viele Verbindungen zu anderen Zellen haben. Er schlussfolgert, dass Autisten deshalb viel stärker auf Reize reagieren. Autisten hätten deshalb intensivere Wahrnehmungsfähigkeiten, die Welt sei für sie schneller, lauter und bunter. "Intense World Syndrom" nennt Hirnforscher Markram seine Theorie - die Theorie einer intensiv wahrgenommen Welt, auf die Autisten mit Rückzug reagieren. Seiner Meinung nach lernt das autistische Gehirn schneller und vergisst schlechter. Um sich vor der Reizüberflutung zu schützen, würden sich viele Autisten in ihre eigene Welt, mit ihren eigenen Ritualen, flüchten.
Es ist, als ob all deine Sinne verstärkt würden. Um den Faktor eins, zwei, drei oder vielleicht sogar zehn. Je nachdem, wie stark der Autismus ist." Hirnforscher Henry Markram, École Polytechnique Fédérale de Lausanne, Schweiz
Autisten haben keinen Mangel, sondern ein Zuviel
Das erklärt, warum Betroffene einen Ton unter Umständen zehnmal so laut, ein Licht zehnmal so hell und Wassertropfen beim Duschen als stechende Nadeln wahrnehmen. Dass autistische Kinder oft soziale und sprachliche Probleme haben, führt Markram darauf zurück, dass wichtige Impulse im Chaos der Reize untergehen. Markram empfiehlt, früh gegenzusteuern, intensive Reize in der Umgebung und Überraschungen zu vermeiden. "Für ein autistisches Kind kann jede Form von Überraschung traumatisch sein", meint Henry Markram. Das hänge damit zusammen, dass Autisten nichts vergessen - beim Ski- und Snowboardfahren zum Beispiel nicht die schmerzenden Stiefel, die Stürze und die frierenden Hände. Sport im Schnee, vielleicht auch Schnee generell, könne so zum No-Go werden.
"Das Wichtigste an der Theorie finde ich, dass sie weggegangen ist von der Idee, dass Autisten einen Fehler haben, dass sie Mängelexemplare sind. Er ist hingegangen und hat gesagt: 'Es geht nicht um einen Mangel. Da ist etwas, das Autisten zu viel haben und damit müssen wir umgehen.' Also definitiv mit einer Stärke und nicht mit einer Schwäche." Lorenz Wagner, Journalist, Autor eines Buches über Henry Markram und seine Autismus-Forschung
Henry Markram wird für seine Theorie kritisiert
In den vergangenen Jahren sind einige Studien erschienen, die Henry Markrams "Intense World Theory" stützen. In anderen Arbeiten wird sie jedoch heftig kritisiert. Besonderen Sprengstoff birgt für viele Forscher Markrams Annahme, dass sich eine reizarme Umgebung positiv auf das Gehirn auswirke - und dass sich Autismus dadurch sogar überwinden lasse. Das wecke bei Eltern eine Hoffnung, die sich vielleicht nie erfüllen werde. Und zu wenige Reize und zu wenig Input in frühen Entwicklungsphasen könnten die Entwicklung sozialer, kognitiver und emotionaler Fähigkeiten erst Recht gefährden, schreiben etwa die Londoner Wissenschaftlerinnen Anna Remington und Uta Frith. Die Ausprägungen von Autismus seien zudem so unterschiedlich, dass Markrams eine Theorie zu kurz gegriffen sei. Manche Autisten würden tatsächlich sehr stark auf Reize reagieren, andere hingegen gar nicht. Einige hielten sich von manchen Reizen vielleicht fern, andere suchten sie gezielt.
"Hypersensitivität wurde zu lange vernachlässigt"
Doch trotz aller Kritik mache Markrams Forschung eines deutlich, meint Wolfgang Ludwig, Pädagoge und Gesundheitsmanager bei den "Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel", der für die Arbeit mit Autisten zuständig ist: "Das Thema Hypersensitivität wurde zu lange vernachlässigt." Autisten würden oft als Nerds abgestempelt, dabei gebe es im Autismus-Spektrum sehr unterschiedliche Persönlichkeiten.
Greta Thunberg und das Asperger-Syndrom
Eine davon ist zum Beispiel Greta Thunberg, die schwedische Schülerin mit Asperger-Syndrom, die seit August 2018 für den Klimaschutz demonstriert. Sie sprach bereits vor großem Publikum auf der Klimakonferenz in Kattowitz und beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Mittlerweile folgen Abertausende von Schülern weltweit unter dem Motto "Fridays for Future" ihrem Beispiel und Streiken fürs Klima. Sie selbst sagt über sich: "Ich bin nicht so, wie die Leute denken. Ich bin ziemlich ruhig. Privat spreche ich so gut wie gar nicht. Ich bin sehr empfindsam."
Wie Autismus entsteht, ist noch immer unklar
Laut dem Bundesverband autismus e.V. existiert noch kein umfassendes Erklärungsmodell, "das vollständig und schlüssig die Entstehungsursachen autistischer Störungen belegen kann". Auch für die Diagnose gibt es kein allgemeingültiges Modell. Hier helfen kein Gentest und keine Blutuntersuchung. Ärzte und Therapeuten sind auf Beobachtungen und Fragebögen angewiesen. Weil die Autismus-Formen so unterschiedlich ausfallen können, gibt es vielfältige pädagogische und therapeutische Ansätze, die sich dann an den jeweiligen Bedürfnissen der Betroffenen orientieren. In vielen Fällen ist die Störung gar nicht behandlungsbedürftig, oft fällt sie gar nicht auf. Autismus gilt als unheilbar. Kindern können Verhaltenstherapien helfen, im Leben besser zurechtzukommen. Für Eltern gibt es Elterntrainings, in denen sie lernen, angemessen auf ihre Kinder zu reagieren.
Autismus muss weiter erforscht werden
Für Forscher hält das menschliche Gehirn noch viele Überraschungen parat. Noch ist die Wissenschaft dabei, die vielschichtigen autistischen Störungen zu erforschen und besser zu verstehen. Auch Henry Markram geht davon aus, dass die Autismusforschung generell noch weiter vorangetrieben werden muss. Doch mindestens so wichtig wie die Erforschung ist der Umgang mit Autismus in der Gesellschaft. "Wir sind diejenigen, denen es an Empathie mangelt, nicht die Autisten. Wir sind es, die ein Kind unter Nadeln stellen", verdeutlicht Markram und erinnert sich dabei auch an die Panik seines Sohnes vor dem Duschen.
Welt-Autismus-Tag am 2. April
Um mehr Verständnis für Autismus zu entwickeln, haben die Vereinten Nationen 2007 den Welt-Autismus-Tag ins Leben gerufen. Er findet jedes Jahr am 2. April statt.
Bundesverband autismus: Informationen und Hilfe für Betroffene
Weiterführende Informationen über Autismus-Spektrum-Störungen, Tipps und Hilfe für Betroffene gibt es beim Bundesverband autismus e.V.
Radio-Tipp: Gespräch mit Dr. Martina Schabert, Autismuskompetenzzentrum Oberbayern: Was ist eigentlich genau Autismus? radioWelt, 06.03.2020 , 06:05 Uhr, Bayern 2